360 ohne Zirkelschluss

Wer selten liest und mehr ins Kino geht, wird trotz allem schon mit dem Namen Arthur Schnitzler konfrontiert worden sein. Schnitzlers TRAUMNOVELLE war Vorlage für Kubricks letzten Film EYES WIDE SHUT, der weniger wegen seiner filmischen Qualitäten als seiner exorbitanten Drehzeit von 400 Tagen im Gedächtnis blieb. Die Versuchung, das Verlangen, vom Suchen und Finden. Schnitzler offenbart an seinen Figuren keine hilflosen Seelen, sondern entdeckt deren Sehnsüchte und sexuellen Phantasien. Drehbuchautor Peter Morgan nahm sich Schnitzlers Skandalstück DER REIGEN vor, verfolgte lose die Struktur, nannte es 360, und Fernando Meirelles machte einen Film daraus. Aber keinen sehr guten Film. Ob Morgan oder Meirelles, jeder für sich hat Großartiges im aktuellen Kino geleistet. Bei 360 hat die Fusion nicht funktioniert. Und von Schnitzlers Theaterstück ist kaum noch etwas vorhanden.

Es beginnt mit einer Prostituierten, ihren Hoffnungen sich in die oberste Escort-Liga hochzuschlafen, und ihrem ersten Kunden, der nicht mit ihr ins Bett geht. Das löst eine Kette von Begegnungen und Beziehungen aus, die um den gesamten Erdball reichen, so die wohlwollende Werbebotschaft. Nein, tut es nicht. Die Geschichte von 360 ist weit weniger komplex als sie gerne sein möchte. Aber die Verbindungen der einzelnen Schicksale sind glaubhaft und halten den Film in einem Fluss der das Interesse an den Figuren nicht abreißen lässt. Aber die Geschichten gehen nicht tief oder weit genug. Der eine betrügt, die andere betrügt auch, jemand möchte betrügen, andere werden betrogen. Mittendrin ein verurteilter Sexualverbrecher, der sich kaum zügeln kann. Oder ein Vater auf der Suche nach seiner Tochter, die abgehauen ist, weil er ihre Mutter betrogen hat. Die einzelnen Geschichten und Figuren haben sehr viel Potential, aber sie wirken nie fertig erzählt. Wenn sich die  sexuelle Ebene erschöpft hat, scheint sich auch das Interesse der Filmmacher erschöpft zu haben.

Die internationale Besetzung ist durchweg grandios gewählt und ihre Darstellungen über jeden Zweifel erhaben. Selbst Schwergewicht Hopkins bekommt nicht mehr Leinwandzeit wegen seines großen Namens zugestanden, jede Figur ist gleichwertig zu den anderen inszeniert. Sehr erfreulich ist auch Adriano Goldmans Kameraführung und Bildgestaltung. Mit klaren und ruhigen Bildern vermittelt Goldman ein wunderbares Gefühl für die internationalen Settings, beobachtet aber auch sehr intensiv die Protagonisten, kommt ihnen manchmal fast etwas zu nahe. Fernando Meirelles erweist sich wieder einmal als ausgezeichneter Schauspiel-Führer, wenn nur nicht dieses massive Gefühl vorherrschen würde, das die einzelnen Geschichten nicht wirklich zu Ende erzählt sind. Gerade mit Peter Morgan am Buch, der schon mit so viel subtiler Substanz in seinen bisherigen Filmen überzeugte, hätte man sich bei 360 wesentlich mehr erhofft. Ein bisschen komplexer, verspielter in den Ausführungen vielleicht. Arthur Schnitzlers Original könnte heute niemanden mehr die Schamesröte ins Gesicht treiben, geschweige denn schockieren. Da hätte man sogar noch viel großzügiger in der Auslegung des Stoffes sein können. Denn es ist unbestreitbar, dass sich der Zuschauer für die Figuren interessiert, und sich um sie sorgt.

Regisseur Meirelles mit Anthony Hopkins

Darsteller: Anthony Hopkins, Ben Foster, Dinara Drukarova, Gabriela Marcinkova, Jamel Debbouze, Johannes Krisch, Jude Law, Moritz Bleibtreu, Rachel Weisz u.v.a
Regie: Fernando Meirelles
Drehbuch: Peter Morgan
Kamera: Adriano Goldman
Bildschnitt: Daniel Rezende
Musikberatung: Cica Meirelles
Produktionsdesign: John Paul Kelly
Großbritannien-Österreich-Frankreich-Brasilien / 2011
zirka 113 Minuten

Bildquelle: Magnolia Pictures / Prokino Filmverleih
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