ANEMONE

Anemone - (c) FOCUS FEATURES– Bundesstart 27.11.2025
– Release 03.10.2025 (US)

Ohne groß Worte zu verlieren, verabschiedet sich Jem von seinem Ziehsohn Brian und seiner Frau Nessa. Er setzt sich auf sein Motorrad und fährt mit Rucksack und Iso-Matte aus der Stadt, über das Land, in die Wälder. Irgendwo im Nirgendwo stellt er das Motorrad ab und geht zu Fuß durch den dichten Wald weiter. Schließlich kommt er an eine heruntergekommene Hütte. Zehn Minuten hat Regisseur Ronan Day-Lewis bis hierher gebraucht. Jedes Bild auskostend, manchmal mit merkwürdigen Wechseln in der Kameraführung. Day-Lewis lässt erkennen, dass alles was er zeigt von Bedeutung ist, oder sein könnte. Das Drehbuch hat er zusammen mit seinem Vater Daniel geschrieben. Es ist zugleich Daniel Day-Lewis‘ erster Auftritt nach Jahren. Er spielt Ray, den Bewohner jener Hütte. Und Jem, der den langen Weg auf sich genommen hat, ist sein Bruder. Jem wird von Sean Bean gespielt. Daraus ergibt sich eine Leinwandkombination, die sich wie ein Muss ausnimmt.

Ronan Day-Lewis bringt mit „Anemone“ sein Debüt als Autor und Regisseur eines Langfilms auf die Leinwand. Es ist ein überlanges Drama über Schuld und Sühne, über Verantwortung und Vergebung, über Generationskonflikte und Familientrauma. Es ist das Drama eines ambitionierten Filmemachers, der über seine eigenen Ansprüche stolpert. Über die gesamte Laufzeit erschließen sich Zusammenhänge nur mühsam. Fehlende Details müssen über das Presseheft erkundet werden. Es sei denn, die jüngere britisch-irische Geschichte ist einem vertraut. Zuerst einmal ist Ray nicht sehr erfreut seinen Bruder nach 20 Jahren wiederzusehen. Warum, erfahren wir später – wie alles andere auch. Der Regisseur stellt die Form weit über die Substanz.

Ray hat als britischer Soldat im Nordirland-Konflikt gekämpft, und ist nach einem traumatischen Ereignis desertiert. Brian ist eigentlich sein Sohn, Nessa war seine Frau. Jem hat im Laufe der Jahre die Vaterrolle übernommen, und ist mit Nessa zusammen. Dennoch möchte Jem das Unmögliche versuchen, und seinen Bruder dazu bringen, wieder nach Hause zu kommen. Das wirklich Erstaunliche in der Erzählung sind die unwirklich lang scheinenden Passagen, in welchen die beiden Brüder nicht reden. Zwei Brüder die immer noch ein wirkliches Verständnis füreinander haben. 

Dies ist natürlich eine Vorgabe in der Geschichte, die unstrittige Charakterdarsteller verlangt. Und es ist auch schnell zu erkennen, was Daniel Day-Lewis acht Jahre nach seinem angeblichen Ruhestand wieder vor die Kamera bringt. Nach dazu, wenn er das Buch zusammen mit seinem Sohn erarbeitet hat. Daniels facettenreiche Leistungsschau zwischen Wut und Verzweiflung, zwischen Kälte und Andacht, ist die eigentliche Reputation für diesen Film. Leidtragender ist ausgerechnet Sean Bean – und mit ihm das Publikum – dessen eigentlich ebenso relevante Figur des Jem, gnadenlos der Präsenz von Daniel Day-Lewis untergeordnet wird. Schuld daran ist aber auch die zu aufdringlich nach überzogenem Mystizismus ausgelegte Inszenierung.

Anemone 2 - (c) FOCUS FEATURES

Nicht das es etwas gegen verhaltene Mysterien oder irrationale Wesenszüge einzuwenden gäbe. Die Kinolandschaft wäre sonst eine sehr traurige Einöde. Aber Ronan Day-Lewis will so viel, gibt aber kaum etwas dafür. Sein „Love Lies Bleeding“-Kameramann, Ben Fordesman, erstickt manche Bilder in einem undurchdringlichen Grün der Wälder, macht mit Überflügen die Landschaften zu lebenden Gemälden, und er wechselt auf irritierende Weise die Aufnahmetechnik von handgeführt, zu Drohnenbildern, zu Steadicam. In der Montage kann Nathan Nugent vieles davon auffangen, und Teilen des Films eine homogene Folge geben. Doch es ist schlichtweg zu viel gewollte Kunst, mit der Ronan die Erzählung unterstreichen möchte – einschließlich mystischer Erleuchtung – aber damit lenkt er nur ständig von der Komplexität seiner Figuren ab. 

Anstatt Powerhouse setzt der Filmemacher auf Arthouse. Auch wenn die treibende Energie und starke Präsenz seiner Protagonisten auch ohne künstlerische Spielereien oder anderem Firlefanz einen Film zu einem gewaltigen Erlebnis machen könnten. Könnten – doch der Film springt auch immer wieder von Jem und Ray, nach Hause zu den wartenden Brian und Nessa. Brian scheint gewichtige Probleme im eigenen Umfeld zu haben, wie seine blutigen Hände nahelegen. Zu viel Rätselraten, zu viel Andeutungen, und am Ende doch keine befriedigende Auflösung. Dabei ist der Kern der Geschichte gar nicht so besonders, weder bemerkenswert, noch interessant. Daniel Day-Lewis und Sean Bean, sie allein sind mit ihren Figuren bemerkenswert und interessant.

Alles andere ist überfrachtetes Familiendrama, in dem Samantha Morton als Nessa absolut unterbeschäftigt bleibt. Rundherum bleibt der Film ein blankes Vehikel für Daniel Day-Lewis, dass wirklich packen würde, hätten Vater und Sohn Day-Lewis der Figur von Sean Bean einen adäquaten Gegenentwurf auf den Leib geschrieben. Starke Bilder und sensationelle Darsteller machen noch einen wirklich mitreißenden Film, der sich motiviert zeigt, aber überambitioniert ist. Als Debüt ist „Anemone“ schon ansehnlich, doch an den meisten Stellen verschenkt. Ronan will zu viel, und gibt zu wenig.

Anemone 1 - (c) FOCUS FEATURES


Darsteller: Daniel Day-Lewis, Sean Bean, Samantha Morton, Samuel Bottomley, Safia Oakley-Green u.a.

Regie: Ronan Day-Lewis
Drehbuch: Ronan Day-Lewis, Daniel Day-Lewis
Kamera: Ben Fordesman
Bildschnitt: Nathan Nugent
Musik: Bobby Krlic
Produktionsdesign: Chris Oddy
Großbritannien, USA / 2025
125 Minuten

Bildrechte: FOCUS FEATURES
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