SINNERS
– Release 16.04.2025 (world)
Es gibt eine Szene in Ryan Cooglers jüngstem Film, in der man leicht ein eminentes Detail übersehen kann. An der Hauptstraße in Clarksdale, Mississippi, betreibt ein asiatisches Paar zwei Läden auf gegenüberliegenden Straßenseiten. In einem engen Tracking Shot geht ein Protagonist von einem Laden zum anderen, während eine andere Person denselben Weg in die entgegengesetzte Richtung zurücklegt. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass sich auf der einen Straßenseite ausschließlich Läden für die schwarze Bevölkerung befinden, und auf der anderen jene für Weiße. Dieses Detail ist nicht handlungsweisend, aber unterstreicht wie so viele andere Details, in Verbindung mit dem eigentlichen Kern der Geschichte, dass jede Szene in Cooglers Film von Bedeutung ist. Alles in der Umsetzung und im Inhalt von „Sinners“ ist von Bedeutung. Mit diesem künstlerischen Idealismus hat Ryan Coogler unmittelbar einen modernen Klassiker geschaffen.
Seinen ersten Kinofilm, „Fruitvale Station“, realisierte Coogler auf 16mm-Film. Jetzt, bei seinem fünften Werk – und dem ersten nach eigenem Original-Drehbuch – ließ er gleichzeitig auf Panavision70 und Imax-15/70-Film ablichten, den größten Formate im Kino. Die Frage nach Sinn und Sinnhaftigkeit im digitalen Zeitalter noch auf Film zu drehen, erklärt sich allerdings am besten durch das visuelle Erleben selbst. Es ist aber nicht so, dass die Bilder durch die Aufnahmeformate einfach nur eine selten zu sehende räumliche Brillanz bekommen. Autumn Durald Arkapaw weiß auch jede Einstellung auf den bestmöglichen Ausdruck jeder Szene zu kadrieren. Und sie schafft für jedes Setting eine eigene Lichtstimmung. Die Nachtaufnahmen sind ganz nach den Möglichkeiten des Kinos der 1950er gestaltet. Oder man beobachte das sich verändernde Schattenspiel, wenn sich Smoke nach sieben Jahre wieder mit seiner Frau Annie aussöhnen will.
Smoke ist der Zwillingsbruder von Stack. Und sie kommen aus Chicago 1932 ins Mississippi-Delta zurück, um hier ihre Gangsterkarriere mit einem Juke Joint fortzusetzen. Ein Etablissement mit heißem Blues, anrüchigem Tanz und viel illegalem Alkohol. Alte Bekanntschaften werden wiederbelebt, alte Freundschaften erneuert. Cousin Sammie ist ein Virtuose an der Gitarre und hat eine Stimme wie sie nur der Blues hervorbringen kann. Sammie wird Preacher-Boy genannt weil sein Vater Priester in der Stadt ist. Und Vater warnt ihn auch vor den Verführungen der Musik: „Wer mit dem Teufel tanzt, dem wird er eines Tages nach Hause folgen.“ Mehr braucht man nicht zu wissen. Mehr sollte man auch nicht wissen. Nur noch so viel – wer denkt schon alles über oder mit Vampiren gesehen zu haben, wird hier eines Besseren belehrt.
Ryan Coogler hat sich viel vorgenommen. Und er hat sehr viel hineingepackt. „Sinners“ ist Horrorfilm und Musikfilm. Doch wie beide nebenher laufen, sich immer wieder berühren oder ineinanderfließen ohne sich gegenseitig aufzuheben, das ist erstaunlich. Doch da ist noch so viel mehr, wie das zeitgeschichtliche Drama, oder der Einfluß alter Mythen und von Kräften die mit Musik heilen, die aber auch das Böse anlocken. Uralte Mythen aus Afrika, Irland und von den amerikanischen Ureinwohnern. Sie alle sind in der Geschichte ein tragendes Element. Aber was soll man sagen, alles in diesem Film ist tragend. Wie die Legende von Robert Johnson, der seine Seele dem Teufel verkaufte, um besser Gitarre spielen zu können. Preacher-Boy Sammie könnte eine Version der Robert Johnson-Legende sein. „Sinners“ ist voller Gedanken und Ideen, die Ryan Coogler sehr raffiniert und subtil in seinen Film nach dem Vorbild großer Klassiker verarbeitet. Und das alles mit visueller wie akustischer Brillanz auf höchstem technischen Niveau.
Doch stellt sich die Frage: Ist dieser Film für ein breites Publikum gemacht? Er ist aufregend, bildgewaltig, und hat grandiose Tonebenen, mit einer berauschenden 7.1-Mischung. „Sinners“ sollte man auf der größtmöglichen Leinwand sehen, mit dem Ton auf höchster Lautstärke. „Sinners“ ist ein Film für Schwarze, mit Themen über Schwarze, mit Musik von Schwarzen, über eine schwarze Gesellschaft, mit ihrer Vergangenheit, und sogar ihrer Zukunft. Letztendlich ist das seine wahre Stärke, weil Ryan Coogler in diesem Bereich keine Kompromisse eingeht. Das macht den Film so ehrlich, und in seiner inneren Logik auch authentisch. Und kein etablierter Mainstream-Regisseur hätte gewagt, was Coogler mit einer Musiknummer in der Mitte des zweiten Aktes wie selbstverständlich auf die Zuschauenden loslässt. Eine grandiose aber auch verstörende Sequenz, und definitiv die beste im ganzen Film, wenn sich in einer Nummer alle Ausrichtungen von schwarzer Musik in einem frenetischen Mix vereinen. Von den Anfängen in Afrika, über Blues, bis zum heutigen Hip-Hop. Es ist schwindelerregend und atemberaubend.
Natürlich steht im Raum, das sich die Inhaltsangabe wie ein Abklatsch von „From Dusk till Dawn“ liest. Der Wind wird insofern aus den Segeln genommen, dass Ryan Coogler diesen Robert Rodriguez-Film seit jeher bewundert, und ihn deshalb auch als Inspiration angibt. Und allen Skeptikern sei versichert, dass das Erleben von „Sinners“ einen Vergleich beider Filme irrelevant macht. Weit mehr als eine Stunde zeigt der Film eine klare Entwicklung hin zum Showdown im Juke Joint. Aber in dieser Zeitspanne entwickelt sich eine Geschichte, die für sich alleine schon einen eigenen Film trägt. Es ist so interessant inszeniert und spannend in den Charakter-Aufbauten, dass man vom zu erwartenden atmosphärischen Richtungswechsel trotz allem überrascht wird.
Das ist natürlich auf die starken Zeichnungen der Figuren zurückzuführen. Hailee Steinfeld spielt die unbeugsame Ex-Freundin mit einem Achtel schwarzem Blut, Wunmi Mosaku überzeugt als selbstsichere Hoodoo-Heilerin mit guten Absichten, oder Delroy Lindo der als versoffener Musiker im entscheidenden Moment einen klaren Kopf behält. Eigentlich ist wirklich jeder Charakter interessant, und vor allem einzigartig. Niemand gleicht in irgendwelchen Wesenszügen dem oder der anderen. Was bei Michael B. Jordans Doppelrolle besonders fasziniert. Stack lächelt, Smoke tut das nicht. Mehr braucht Jordan nicht, um aus beiden Zwillingen überzeugende, eigenständige Persönlichkeiten zu formen. Eine Person mit sich selbst im Bild zu interagieren zu lassen ist wahrlich einer der ältesten Filmeffekte. Hier hat man das Gefühl, allein schon durch die sorgsame Umsetzung dieses Effektes, ihn noch nie besser gesehen zu haben. Allein wie selbstverständlich und natürlich Smoke und Stack (ein Namensspiel, dass in der deutschen Fassung nicht greift) gemeinsam im Bild eine Zigarette hin und her reichen, ist umwerfend.
Es ist der fünfte Spielfilm von Ryan Coogler, und sein fünfter Film mit Michal B. Jordan. Und Jordans starke Leinwandpräsenz lässt diese zwei Figuren tatsächlich auch eigenständig funktionieren. Aber es ist nicht unbedingt nur ein inszenatorischer Gimmick. Im Kontext der Erzählauflösung, wird die Doppelrolle sogar zu einem metaphysischen Element des übersinnlichen Narrativs. Alles wirkt penibel durchdacht, nichts dem Zufall überlassen. Coogler hat sich wie eingangs erwähnt, sehr viel vorgenommen. Zum Beispiel auch, dass er aus afroamerikanischer Sicht einen afroamerikanischen Film gemacht hat, der verdammt gut ein weißes Publikum anzusprechen versteht. Alles in der Umsetzung und im Inhalt von „Sinners“ ist von Bedeutung. Mit diesem künstlerischen Idealismus hat Ryan Coogler unmittelbar einen modernen Klassiker geschaffen. Und vergessen sie alles, was sie bisher über Vampire gesehen haben.
In besuchter Vorstellung wurde die DCP-Fassung im Bildformat 2,76:1 gezeigt.
Darsteller: Michael B. Jordan, Hailee Steinfeld, Miles Caton, Jack O’Connell, Wunmi Mosaku, Delroy Lindo, Jayme Lawson, Omar Benson Miller u.a.
Regie & Drehbuch: Ryan Coogler
Kamera: Autumn Durald Arkapaw
Bildschnitt: Michael P. Shawver
Musik: Ludwig Göransson
Produktionsdesign: Hannah Beachler
USA / 2025
137 Minuten