– Bundesstart 23.10.2025
DCM-Digitales Kino, 02.20.2025
Es war leider ein viel zu wenig beachtetes Gedankenspiel, welches Roland Suso Richter 1999 mit „Nichts als die Wahrheit“ in die Kinos brachte. Ein 87 Jahre alter Josef Mengele stellt sich der deutschen Justiz, um die Rechtsstaatlichkeit von Heute, mit seinen 50 Jahre vorher begangenen, seinerzeit legitimierten Verbrechen herauszufordern. Richters fiktiver Film ist durchaus auch wichtig. Jetzt aber kontert Kirill Serebrennikow mit der Verfilmung von Olivier Guez‘ preisgekröntem Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ – und damit der ‚realen‘ Wahrheit. Und die ist selbstredend noch viel schrecklicher als nur ein Gedankenspiel. Wobei sich Serebrennikow merklich zurückhält, was die Visualisierung der Schrecken in Auschwitz betrifft. Dennoch ist das Grauen allgegenwärtig. Denn Kirill Serebrennikow ist nicht daran interessiert so etwas wie eine menschliche Seite an dem Todesengel von Auschwitz zu finden. Und Darsteller August Diehl tut auch alles dafür, dass Mengele durchweg als Unmensch wahrgenommen wird.
Der Film wird nicht chronologisch erzählt, und springt immer wieder zu verschiedenen Stationen in Josef Mengeles Leben auf der Flucht. Argentinien, Paraguay, und Brasilien. Aber 1956 auch kurz in die Bundesrepublik Deutschland, wofür er in Buenos Aires sogar einen Reisepass mit seinem richtigen Namen bekam. Die Zeitsprünge nutzt der Film geschickt, um diverse Aspekte dieses Lebens auf der Flucht länger und eindringlicher zu zeichnen. Das ungenierte Leben im Überfluss mit befreundeten Alt-Nazis in Argentinien. Die Paranoia und allgegenwärtige Gefahr durch Israels Mossad in Paraguay. Das Alter und der körperliche Verfall, sowie die Auseinandersetzung mit dem Sohn in Brasilien. Oder der politischen Wandel, diksutiert mit der Familie im deutschen Günzburg.
Kirill Serebrennikow ist leidenschaftlicher Verehrer von sehr langen und ereignisreichen Plansequenzen. Und Kameramann Vladislav Opelyants zaubert dafür erstaunlich eindringliche Szenen. Wobei sich Mengeles Hochzeit mit seiner verwitweten Schwägerin Martha als wahres Meisterwerk an Bewegung, Dialogen, Handlung und Ortswechsel in einer einzigen Einstellung beweist. 90 Prozent des Films hat Opelyants in Schwarzweiß gedreht, vermeintlich auf 16mm-Film. Die Optik des körnigen 16mm-Materials erfüllt durchaus seinen zeitlos atmosphärischen Zweck, dennoch entsteht oft der Eindruck, dass einige Einstellungen am Computer nachgebessert wurden.
So gut der Film auch erzählt ist, bleibt er aber ein zweischneidiges Schwert. Er bietet keine wirklich neuen Einsichten, oder vielleicht sogar kontroverse Aspekte. Der in Farbe und als Privatfilm fürs Heimkino gedrehte Rückblick – für Mengeles Erinnerung an Auschwitz – stellt sich dabei selbst in Frage. Zweifelsfrei symbolisieren diese plötzlich farbigen Aufnahmen die scheinbar beste Zeit in Mengeles Leben. Und der Regisseur nutzt diesen optischen Wechsel am Ende auch für einen besonderen Kniff, wenn Mengele von den Geistern der Vergangenheit eingeholt wird. Aber die im Heimkinostil gezeigten Gräueltaten an Lagerinsassen kann sehr leicht als voyeuristische Ausbeutung missverstanden werden, weil sie im Grunde nicht nötig sind.
Der für den Film relevante Schrecken kommt aus den unbekümmerten Gesprächen und unreflektierten Gedankengängen, nicht nur von dem bis zu seinem Tod überzeugten Mengele, sondern seinen ebenfalls im Exil lebenden Nazi-Schergen. Sogar bei der unbehelligt in Günzburg lebenden Familie. Aus tiefster Überzeugung glaubt man an das Wiedererstarken des Nationalsozialismus. Begründungen liefert die junge Bundesrepublik Deutschland selbst, wenn die ewig Gestrigen immer wieder anführen, welche Hitler-Getreuen in welchen politischen Positionen Stellung gefunden hat.
August Diehl ist sicherlich nicht Deutschlands beliebtester Schauspieler – warum auch immer. Aber er ist einer der Unerschrockensten – vielleicht gerade deshalb. Und als Josef Mengele zeigt er erneut, warum er schlichtweg zu den Besten und international Anerkanntesten zählt. Dabei ist es ohne Belang, wie authentisch er die reale Person widerspiegelt. Diehl ist mit jeder Faser ein Josef Mengele, der jene Verbrechen begangen hat. Der von seiner Unschuld überzeugt ist. Für den es nichts zu bereuen gilt. Kirill Serebrennikow lässt in vielen Szenen mit Mengele den Schauspieler auch außerhalb des Zentrums, und konzentriert das Bild auf die Nebendarsteller und deren Reaktionen. Doch Diehls Präsenz bleibt in jeder Einstellung dominant. Und wenn er mit nur kurzen Blicken Umgebung oder Personen mustert, werden seine Gedanken sichtbar.
„Das Verschwinden des Josef Mengele“ ist ein sehr einnehmender und beunruhigender Film, der trotz allem im Verlauf immer wieder etwas Unbestimmtes vermissen lässt. Zudem kommt die trügerisch nervöse Ruhe der Erzählung in der letzten halben Stunde schwer aus dem Tritt. Die Schnittrate wird höher, die Kameraeinstellungen extremer. Die optischen Eindrücke verlieren ihre vorangegangene Nüchternheit, als wollte der Regisseur einen abschließenden Fiebertraum erzwingen. Davon aber abgesehen braucht der Film auch nicht zwangsläufig neue Ansichten oder kontroverse Aspekte um wichtig zu sein. Das zeigen warnende Nachrichten aus allen Teilen unser Welt.
Darsteller: August Diehl, Max Bretschneider, Dana Herfurth, Frederik Becht, Mirco Kreibich, Annamária Láng u.a.
Regie & Drehbuch: Kirill Serebrennikow
nach dem Buch von Olivier Guez
Kamera: Vladislav Opelyants
Bildschnitt: Hansjörg Weißbrich
Musik: Ilja Demutsky
Produktionsdesign: Maria Belen Cirio, Lyubov Korolkova, Vladislav Ogay
Frankreich, Mexiko, Großbritannien, Deutschland, USA
2025
135 Minuten