MEMOIR OF A SNAIL
– Bundesstart 24.07.2025
– Release 17.10.2024 (AUS)
„Das Leben kann nur rückblickend verstanden werden, wir müssen es jedoch vorwärts leben“, sagt die lebenslustige und altersweise Pinky, die einzige Freundin die Grace Pudels hat. Die einzige menschliche Freundin. Denn es gibt noch Sylvia, die Schnecke. Eine sehr gute Zuhörerin in Anbetracht ihrer Erscheinung. Grace liebt Schnecken, und gleich alles schneckenförmig mit. Es ist Sylvia, die von Grace ihre Lebensgeschichte erzählt bekommt. Wir im Auditorium erleben das nur zufällig. Und wer die Filme des Australiers Adam Elliot kennt, kann sich ungefähr vorstellen, was wir erleben werden. Es ist melancholisch, es ist traurig, es ist düster, es ist pessimistisch, es schmerzt. Im Gegenzug ist es witzig, ironisch, voller Optimismus und unglaublich lebensbejahend. Ja, so sind die „Memoiren einer Schnecke“ tatsächlich.
Grace und ihr Bruder Gilbert verlieren früh ihre Mutter. Der Vater ist an den Rollstuhl gefesselt und wird zum Alkoholiker. Grace erzählt, dass sie der Glas-halb-voll-Typ ist, Gilbert das Gegenteil. Auch der Vater stirbt, die Kinder werden in verschiedene Institutionen gebracht, am jeweilig entgegengesetzten Ende von Australien. Aber ihre ewige und inständige Treue überwindet die Ferne. Wem das an dieser Stelle schon zu deprimierende sein soll, wird bei den weiteren 60 Minuten sein blaues Wunder erleben. Doch weit gefehlt – sehr weit gefehlt – wer glaubt das Graces Geschichte ein finsteres, bedrückendes Drama sein wird. Es ist ein kleines poetisches Wunder…
…vorausgesetzt man mag ‚Knetanimation‘. Claymation ist diese Stop-Motion-Technik mit Knetmassefiguren, womit Aardman Studios Wallace und Gromit groß rausbrachten. Adam Elliot hat alle sechs seiner bisherigen Filme so gemacht. Er nennt sie Trilogie der Trilogien, weil die ersten drei unter zehn Minuten laufen, die zweite Trilogie unter 90 Minuten pro Film, und „Memoiren“ den Auftakt mit drei Filmen über 90 Minuten bildet. Der Regisseur gibt vor, nach neun Filmen mit dem Medium abzuschließen. Und nach eigenen Worten hätte er nun „zum Glück“ nur noch zwei zu bewältigen.
Vielleicht ist da auch was dran, denn in der Tonalität ähneln sich die Filme schon sehr. Anderseits greift Elliot bei seinen fiktiven Figuren immer wieder auf Geschichten und Wesenszüge von Bekannten und Freunden zurück. So skurril und einzigartig die sammelwütige in sich gekehrte Grace und die extrovertiert sorglose Pinky hier auch erscheinen mögen, in beiden steckt sehr viel von Adam Elliots Bekanntschaften. Und das erzählt der Regisseur sehr eindrucksvoll mit 200 Knetfiguren, 200 Spielorten, tausenden von gekneteten Requisiten, und einer Produktionsphase von acht Jahren. Mit einer exzellent auf Details gerichteten Bildführung (Gerald Thompson) und einer dynamischen Montage (Bill Murphy), wird daraus ein filmtechnisches Glanzstück.
„Memoiren einer Schnecke“ hat nicht die produktionstechnischen Qualitäten einer Aardman-Produktion, und das passt ausgezeichnet zu Graces Geschichte – oder ihrer vielen Geschichten. Mit manchmal resignierter, manchmal nachdenklicher Stimme schweift sie ab zu Pinkys Werdegang, oder erzählt von Gilberts tyrannischer Pflegefamilie. Trotz ihres etwas gebrochenen Charmes verliert Grace aber nie ihren Lebensmut. Sie erfreut sich an ihrer Schneckensammlung, oder über Pinkys Erbe, welches Grace einen Herzenswunsch erfüllt. „Das Leben kann nur rückblickend verstanden werden“, und diese Nachricht kommt auch an. Die Erzählungen sind düster und makaber – rückwirkend – aber wenn Grace ihrer Schnecke Sylvia davon erzählt, hat Grace längst schon ihr eigenes Schneckenhaus verlassen. Am Ende passiert doch immer etwas Gutes.
Adam Elliot sucht seine Kulisse irgendwo zwischen Darren Aronofsky mit dem rabenschwarzen Humor des frühen Tim Burton. Ob Grace, Pinky oder Gilbert, sie haben ihr Herz am rechten Fleck. In einer Welt in der Häuser und Straßen keine rechten Winkel oder gerade Kanten haben, und nie eine Sonne zu erkennen ist. Eine Welt, in der man bei den Figuren in unsauber verarbeitete Knetgesichter blickt. Aber es sind liebenswerte Figuren – die unsichere Grace, die wilde Pinky, selbst der düstere Gilbert.
Die Dialoge sind auf den Punkt gebrachte Weisheiten und Beschreibungen. Eigentlich passen da die runzeligen oder aufgedunsenen Gestalten hervorragend. Das Leben ist nicht perfekt, aber als Glas-halb-voll-Typ sieht Grace immer einen Silberstreif am Horizont. Mit dieser Gewissheit kann man auch diesen Film genießen. An der morbiden Fassade hängt der Wandteppich – welchen Pinky heraufbeschwört – den man erkunden sollte. Darauf ist eine bittersüße Geschichte über Hoffnung, Liebe und die Lust am Leben zu sehen. Und die berührt auf angenehmste Weise. Grace die „ihren Käfig zerbricht, der sie daran hindert, wirklich zu leben“. Und rückblickend versteht man auch, warum das Leben immer vorwärts gelebt werden muss. Manches klingt so trivial, aber es ist so wahr.
Stimmen:
Grace Pudel: Sarah Snook / Luisa Wietzorek
Pinky: Jacki Weaver / Luise Lunow
Gilbert Pudel: Kodi Smit-McPhee / Konrad Bösherz
James: Eric Bana / Harald Effenberg
Percy Pudel: Dominique Pinon
Bill Clarke: Nick Cave
u.a.
Regie, Drehbuch & Produktionsdesign: Adam Elliot
Kamera: Gerald Thompson
Bildschnitt: Bill Murphy
Musik: Elena Kats-Chernin
Set Decorators: Lucy Davidson, Ruby Davis, Kerry Drumm
Produktion Manager: Braiden Asciak
Australien / 2024
95 Minuten