THE RUM DIARY mit Kater-Stimmung

Raoul Duke ist wieder da, möchte man hoffen. Doch es ist nur sein kleiner Bruder Paul Kemp. Der edle, dauerbetrunkene Journalist, mit dem Hunter S. Thompson in seinem zweiten Roman seinem Alter Ego eine Stimme verleiht. Seit FEAR AND LOATHING scheint Johnny Depp nicht mehr von Hunter losgekommen zu sein und begeisterte sich für das Rum-Tagebuch. In diesem Buch wie schon in FEAR AND LOATHING setzte Hunter S. Thompson zwar fiktive Namen an die Spitze, diese fungierten allerdings als seine ganz persönliche Erzählstimme mit seinen ureigensten Erfahrungen. So war Depp dem Autoren und Journalisten Thompson bereits in der damaligen Terry-Gilliam-Verfilmung sehr nahegekommen und wollte diese Erfahrung mit RUM DIARY wiederholen. Im Hick-Hack von Anschubfinanzierung und Vorproduktion wäre Depp das Projekt sogar einmal beinahe aus den Händen geglitten und die Rolle von Paul Klemp alias Hunter S. Thompson bereits an Benicio del Toro vergeben worden. Del Toro hatte ausgerechnet in FEAR AND LOATHING Johnny Depps Kumpan dargestellt. Doch alles wurde gut. Zumindest für Johnny Depp, der vielleicht gehofft haben mag, dass ihn eine erneute Reinkarnation von Thompson nochmals einen kultigen Schub weiterbringen würde.

Paul Klemp beginnt seine journalistische Arbeit bei einer amerikanischen Zeitung in San Juan auf Puerto Rico. Der ambitionierte Schreiber bekommt allerdings nur das Horoskop-Segment zugewiesen. Mit seinem Kollegen-Kumpel Sala beginnen mit Rum angereicherte Nächte und verkaterte Tage, ebenfalls mit Rum. Die Bekanntschaft mit dem Großfinanzier Sanderson bringt Klemp in ein sozial-politisches, und die Bekanntschaft mit Sandersons Freundin Chenault in ein gefühlsmäßiges Dilemma. Aber Paul Klemp ist jung, engagiert und nicht betrunken genug, um die Dinge nicht in die Hand zu nehmen. Welche ihm allerdings immer wieder entgleiten.

Die Geschichte selbst ist weder neu noch besonders originell. Der Einzelgänger in einem Land des Umbruchs. Einer, der sich nur scheinbar um nichts schert. Das machte CASABLANCA zum Klassiker und Pollacks HAVANNA zum weichgespülten Revoluzzer-Drama. RUM DIARY ist in dieser Beziehung kein schlechter Film. Aber es ist ein Film nach Hunter S. Thompson, mit Johnny Depp, aus dem Jahre 2011. Bruce Robinson, nach 19 Jahren das erste Mal wieder auf dem Regiestuhl, scheint es gefallen zu haben, einen eher ruhigen und manchmal sogar altmodischen Film zu inszenieren. Tatsächlich macht sich in seiner Inszenierung bemerkbar, dass die Darsteller ausreichend Spielzeit zugestanden wird, ohne dass sich das ermüdend auswirkt. Aber da wäre mehr, gerade weil der gemeine Kinogänger mit Thompsons Geschichte und der Gilliam-Inszenierung von FEAR AND LOATHING einfach vorbelastet ist.

Dariusz Wolksi setzte den Film auch sehr konventionell ins Bild. Seine klaren, aber leider auch sehr förmlichen Cinemascope-Bilder orientieren sich eher an den klassischen Dramen, anstatt sich den exaltierten Ausschmückungen von Thompsons Vorlage zu fügen. Es sind in Robinsons Inszenierung genügend Momente spürbar, welche die Absurdität des Handlungsverlaufs verdeutlichen. Aber die Inszenierung, die Dialoge, die Geschehen bleiben brav, sind kaum zeitgemäß, und werfen den Film immer wieder zurück. Sehr gute Darsteller verlieren sich in einer allzu unmotivierten Abhandlung von konventioneller Erzählform.

Johnny Depp zeigt erneut, dass er eigentlich immer Captain Sparrows bleiben wird. Amber Heard sieht gut aus, hat aber kaum Esprit, um glaubhaft eine Diva der 60er-Jahre zu verkörpern. Michael Rispoli ist die einzige  Konstante, die den Film charakterlich auf einer Ebene zu halten versteht. So interessant die RUM DIARYs auch sein mögen, sie sind weit entfernt davon, was Terry Gilliam vierzehn Jahre zuvor vollbracht hatte. FEAR AND LOATHING ist gewiss keine leicht verdauliche Psychoanalyse, wurde dem verwirrten Charakter von Thompsons Geschichte aber gerecht. RUM DIARY hingegen wirkt wie eine jugendfreie Version einer mit drei X gebrandmarkten Erwachsenen-Unterhaltung.

RUM DIARY ist ein sehr unterhaltsamer, sehr gut umgesetzter Film. Aber er hinkt seinen Möglichkeiten von verdrehtem Humor und absurder Logik weit hinterher. Sehr zum Bedauern um einen Film, der in seiner anarchischen Struktur so viel mehr an strukturell losgelösten Möglichkeiten dramaturgischer Absurditäten zu bieten hätte. Technisch kann man Bruce Robinsons  Film nichts vorwerfen. In Bildsprache und Inszenierung ist RUM DIARY tadellos, aber als alkoholgeschwängerte, von allen Konventionen befreite Parabel wirkt es einfach nur leidenschaftslos und einfältig. RUM DIARY ist ein sehenswerter Film, der sich allerdings allen modernen und dem Thema angemessenen Sehgewohnheiten verschließt. Es ist ein Film mit Johnny Depp, aber es ist kein Film, der die wilden Erfahrungen und chaotischen Lernprozesse von Hunter S. Thompson wirklich zu vermitteln versteht. Eben doch nur eine jugendfreie Version einer mit vielen Möglichkeiten versehenen Fassung, die Erwachsenen Freude bereitet hätte.

Darsteller: Johnny Depp, Michael Rispoli, Giovanni Ribisi, Amber Heard, Aaron Eckhart, Richard Jenkins u.v.a.
Drehbuch & Regie: Bruce Robinson nach Hunter S. Thompson
Kamera: Dariusz Wolski
Bildschnitt: Carol Littleton
Musik: Christopher Young
Produktionsdesign: Chris Seagers
USA / 2011
zirka 120 Minuten

Bildquelle: Central Film / Sony Pictures Home Entertainment
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