CRIMES OF THE FUTURE

Crimes of Future - Copyight SPF PRODUCTIONS– Bundesstart 10.11.2022

Preview 31.10.2022 Cinecittá Nürnberg:
David Cronenbergs CRIMES OF THE FUTURE ist ein obskures Konstrukt. Er beschäftigt derart, dass ständig die Gedanken in Richtung Bedeutungserkenntnis schweifen . Am Ende wäre es nicht verwunderlich, würde jemand der Überzeugung sein, dieser Film ist eine Metapher auf einfach alles. Zukunftsängste, gesellschaftlicher Verfall, Umweltverschmutzung, alternative Realitäten, Technologiewahn, Wissenschaft, Sexualität, korrupte Bürokratie, Unsterblichkeit, Kunstverständnis, Genmanipulation. Der Großmeister des körperbezogenen Horrors wird bei Horror-Fanatikern verehrt, weil er schon immer die Barrieren für explizite Deformationen an menschlichen Leibern überschritt. SCANNERS und DIE FLIEGE wurden augenblicklich Klassiker. Aber noch mehr als im Horror, ist Davis Cronenberg im Feuilleton zuhause. Feuilletonisten lieben Cronenberg, weil er ihnen so viel Spielraum gibt, und sie dabei immer noch so unheimlich schlau wirken können.

Die Zeit und der Ort ist unbestimmt. Die Menschen haben einige biologische Fortschritte gemacht. Sie empfinden, mit Ausnahmen, keine physischen Schmerzen mehr und haben infektiöse Krankheiten überwunden. Bei manchen ist diese Entwicklung viel weiter fortgeschritten, wie bei dem jungen Brecken, der Plastik isst. Oder Saul Tenser dessen Zustand nennt man ‚Beschleunigtes Evolutionssyndrom‘. Ihm wachsen immerzu neue, innere Organe. Aber Saul verabscheut seine ständigen Veränderungen.

CRIMES OF THE FUTURE ist Kunst. Kunst ist Thema des Films und der Film ist selbst Kunst. Diese Vision der Zukunft ließe sich am ehesten mit Gilliams BRAZIL vergleichen, mit einem Schuss von 12 MONKEYS. Und doch ist er ganz weit weg davon. Stadtansichten gibt es nicht, nur einzelne Häuserfassaden mit beschmierten Mauerwerk. Inneneinrichtungen sind spärlich bis nicht vorhanden, und persönliche Noten gibt es nicht. Alles ist heruntergekommen, und im Hafen stehen nur verrostete Boote auf Land.

Cronenberg dreht das erste mal mit Douglas Koch an der Kamera. Erdige Töne bestimmen Außen- wie Inneneinstellungen. Lediglich die Einstiegssequenz wird von lebensbejahenden Farben dominiert, wechselt dann aber ebenfalls in bräunliche, wenn die Thematik Gestalt annimmt. Douglas Koch gestaltet die Bilder sanft, und verzichtet auf unvermittelte Schockwirkung, um nicht zu überfordern. Was bei diesem Film sehr leicht, sehr schnell passieren könnte, und bei manchem sicher dennoch tut.

Saul Tenser will seine neuen Organe nicht haben, er verweigert sich der Akzeptanz dieser Art der Evolution. Mit der Unfallchirurgin Caprice gestaltet er das Entfernen dieser Organe als Kunst-Event vor zahlendem Publikum. Die zur Kunst erhobenen Veranstaltungen mit den neuen Körperlichkeiten sind gesellschaftskulturelles Zentrum. Wie ein Tänzer, der im Ausdruckstanz seine unzähligen über den ganzen Leib zusätzlich gewachsenen Ohren präsentiert. Es ist ein unheimlich faszinierender Zukunftsentwurf, der gleichzeitig zutiefst verstört.

Crimes of Future 2 - Copyight SPF PRODUCTIONS

 

„Chirurgie ist der neue Sex,“ meint Timlin, die Assistentin im ‚Büro zur Erfassung neuer Organe‘. Es wird der Leidspruch, der im weiteren Verlauf allerdings etwas überstrapaziert wird. Aber wenn ihn Kristen Stewart sagt, dann bekommt ihre sonst kindlich scheue Timlin eine erotische Anziehungskraft. Den neuen Sex erkennt auch Caprice für sich, deren Beziehung zu Saul unbestimmt bleibt. Léa Seydoux spielt Caprice schwankend zwischen lebensfroher Gelassenheit zu Saul und verzweifelter Leidenschaft zum Skalpell.

Der Interpretationsspielraum ist groß. Die Dialoge sind meist konkret, für die Zuschauenden aber manchmal auch sehr kryptisch. Die Figuren wissen genau wovon sie sprechen, aber durch den Verzicht auf Erklärsätze, ist man selbst angehalten Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber von sich aus, ist Cronenberg nicht bereit seinen Film verständlich aufzulösen. Ist die Organentnahme nun strafbar? Welche Rolle nimmt das ‚Amt für die Erfassung neuer Organe‘ wirklich ein? Welchen Zweck sollen diese neuen inneren Organe überhaupt erfüllen?

CRIMES OF THE FUTURE ist voller Rätsel. Besonders Saul Tenser, bei dem es auch nur verwegene Spekulation wäre, ob sein Name nicht von Soul Dancer abgeleitet sein könnte. Als Hauptfigur verkörpert Viggo Mortensen einen außergewöhnlich zurückhaltenden Charakter. Je weniger Dialog Saul Tenser bekommt, desto stärker kann sich Viggo Mortensen in ihm verständlich machen. Saul ist kein Held, er ist Getriebener, der im Teufelskreis festhängt. Je eher die von ihm verhassten Organe entfernt werden, umso schneller wachsen neue nach.

Zusammen mit Douglas Kochs einfühlsamer Kameraführung, inszeniert David Cronenberg die Operationen, die unwirklichen Körperentstellungen, eine überraschende Gewaltspitze, oder gelegentliche Selbstverstümmelungen sehr blutarm. Es sind keine schockierenden Bilder, aber durchweg verstörend. Als Zuschauender adaptiert man das sehr schnell, was dann wiederrum eine unheimliche Faszination auslöst. Doch deswegen wird der Film noch lange nicht greifbarer. CRIMES OF THE FUTURE ist weiter weg vom Mainstream, als alle anderen Filme von David Cronenberg. Bestimmt nicht der Beste, aber irgendwie das Beste von allen anderen.

Crimes of Future 1 - Copyight SPF PRODUCTIONS

 

Darsteller: Viggo Mortensen, Kristen Stewart, Scott Speedman, Léa Seydoux, Don McKellar, Nadia Litz u.a.
Regie & Drehbuch: David Cronenberg
Kamera: Douglas Koch
Bildschnitt: Christoper Donaldson
Musik: Howard Shore
Produktionsdesign: Carol Spier
Kanada, Griechenland, Frankreich / 2022
107 Minuten

Bildrechte: SPF Productions
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