HATCHING

Hatching - Copyright CAPELIGHT - CENTRALPAHANHAUTOJA
– Bundesstart 28.07.2022

Der Videoblog ‚Bezauberndes Alltagsleben‘ von Mutter enträtselt diesen Film bereits in den ersten Minuten. Eine immerzu strahlende Familie winkt in die Kamera, gestellte Familienszenen, pedantische Einrichtung, alles um den ‚Follower‘ neidisch zu halten. Mutter mit Dauergrinsen am Handystick, Vater in akkurater Sonntagsgarderobe bei der Gartenarbeit, Bruder Matias der versonnen seine Mutter herzt, und natürlich die 12-jährige Turnerin Tinja. Nichts ist gut genug, nichts wird dem Zufall überlassen. Und als eine Krähe die Aufnahmen stört, dreht Mutter ihr den Hals um, um lächelnd weiter das bezaubernde Alltagsleben zu filmen. Dass dies kein Horrorfilm im üblichen Sinne sein wird, hätte man schon am Überflug zu Beginn erkennen müssen. Vorort, penibel gepflegte Gärten, makellose Einfamilienhäuser, alles hat einen unwirklichen Glanz. Nichts deutet daraufhin, dass hier wirklich Menschen leben. Im Sinne von leben.

HATCHING ist Horror in besonderer Form. Er kommt aus einem der Länder, welche das Genre zu Freuden des verwöhnten Fans immer wieder auf den Kopf stellt. Body-Horror hört man seit der Premiere in Sundance immer wieder über diese Produktion der finnischen Regisseurin Hanna Bergholm. Aber dieses nie konkret formulierte Sub-Genre ist ein Prädikat aus dem Schaffen von David Cronenberg. Somit ist Body-Horror Hinweis und Marketing gleichermaßen. Was Bergholms Film durchaus vertragen kann.

Als Tinja im Wald das einzige Ei im Gelege der gemeuchelten Krähe findet, will sie es zuhause ausbrüten. Der weitere Verlauf erklärt sich von selbst. Die anfängliche Satire verwandelt sich in eine Groteske. Eine, die sich darin gefällt, vielseitig interpretierbar zu bleiben. Die noch nicht selbstbestimmte Tinja kann sich den Zwängen von Mutter noch nicht erwehren. Blutige Schwielen sind das Resultat, wenn die junge Turnerin am Reck gepeinigt wird, damit sie wirklich Erste beim anstehenden Wettbewerb wird.

HATCHING ist nicht diese Art Wohlfühl-Horror bei dem am Ende grausame, und somit zufriedenstellende Gerechtigkeit wiederfahren wird. Das Augenzwinkern verwandelt sich in ein bizarres Szenario von Abgründen. Wenn vom gigantisch angewachsenen Ei endlich die Schale aufbricht, schlüpft das Äquivalent zur Hässlichkeit in Tinjas Leben. Hanna Bergholm inszeniert direkt, sehr zügig und vermeidet dabei jedwede Länge. Deswegen muss man in der flotten Erzählstruktur jeden Handlungspunkt erst einmal neu einordnen.

Hatching 2 - Copyright CAPELIGHT - CENTRAL

 

Dem Betrachtenden ergeht es wie Tinja, weil man sich schlecht erwehren kann. Bei Tinja ist es der Druck von Mutter, beim Zuschauenden die ungestümen Eindrücke mit denen Bergholm einen herausfordernd konfrontiert. Die Geschichte ist gleichermaßen vorhersehbar wie überraschend. Woran man sich auch nicht stört. Immer wieder wechselt Bergholm den Fokus auf verschiedene Themen. Kindheit und Erwachsenwerden, Geborgenheit und Einsamkeit, Gehorsam und Rebellion. Aber auch Abscheu und Liebe.

Die Filmautorin macht das geschickt, weil sie alles ineinander verwebt, damit die verschiedenen Aspekte kaum mehr zu trennen sind. Manchmal subtil, oft überraschend direkt. Sie vergisst dabei nie in welchem Genre sie sich befindet. Was mit Allie unterstrichen wird, der Kreatur aus dem Ei. Ein missgestalteter Jungvogel mit nur wenig Feder, einer imposanten Größe von über einem Meter, und einer bemerkenswerten Art flügge zu werden. Aus jeder Perspektive wird Allie zum Hauptaugenmerk.

Was Allie als animatronische Puppe funktionieren lässt, ist das uneingeschränkte Selbstverständnis mit der sie inszeniert ist. Es gibt einige Computer generierte visuelle Effekte in HATCHING, aber die Entscheidung, das Herzstück des Films als Animatronic umzusetzen ist radikal und konsequent. Auch wenn es in den ersten Sekunden schwer fällt. Aber in diesem Fall ist es auch keine Frage der Akzeptanz, sondern der inhaltlichen und optischen Form der Handlung.

Es bedarf keiner analytischen Gedankengänge, um das vermeintliche Monster strukturell einzuordnen. Gegen alle möglichen Vorbehalte, gewinnt HATCHING nicht nur an Spannung und effektiver Gruselstimmung, sondern an erzählerischer Substanz. Horrorfilme werden immer besonders wohlwollend aufgenommen, wenn sie als clevere Allegorie aufgebaut sind. Hanna Bergholm lässt da keinerlei Zweifel aufkommen, macht daraus aber keine komplizierte Kopfgeburt.

Das ‚Bezaubernde Alltagsleben‘ von Mutter wird ihr eigener Alptraum, und für Tinja eine furchteinflößende Entwicklungsstufe. Es wäre vermessen zu behaupten, die Skandinavier machen doch die interessanteren Horrorfilme. Aber mit Sicherheit sind sie näher an der Wirklichkeit, näher an der menschlichen Wahrnehmung. Auch HATCHING gewinnt seine eindringliche Atmosphäre und den mitreißenden Schrecken durch seine menschlichen Eigenarten, allerdings in einer grotesk verzerrten Umsetzung.

Hatching 1 - Copyright CAPELIGHT - CENTRAL

 

Darsteller: Siiri Solalinna, Sophia Heikkilä, Jani Volanen, Reino Nordin, Oiva Ollila, Saljy Lentonen, Ida Määttänen u.a.
Regie: Hanna Bergholm
Drehbuch: Hanna Bergholm, Ilya Rautsi
Kamera: Jarkko T. Lane
Bildschnitt: Linda Jildmalm
Musik: Stein Berge Svendsen
Produktionsdesign: Päivi Kettunen
Finnland, Schweden / 2022
86 Minuten

Bildrechte: CAPELIGHT / CENTRAL
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