JOHN WICK: Chapter 4

John Wick 4 - Copyright LEONINE STUDIOS– Bundesstart 23.03.2023

Wenn die schwarze DJane über die Welle des Untergrund-Radios den Aufenthaltsort von John Wick preis gibt, und dann auch noch ‚Nowhere To Run‘ auflegt (hier von Lola Colette, Arnold McCuller in Walter Hills Kult-Actioner von 1979), dann hat auch hier die Reihe den Kreis geschlossen. In dem Fall zu der New-York-Fantasy THE WARRIORS, die sich in ihrer comicartigen Themenstruktur als lupenreine Inspiration für KAPITEL 4 präsentiert. Hier will die „Hohe Kammer“ die Causa John Wick endgültig beenden. Das Konglomerat von Unterweltbossen, Familienclans und Regulatoren haben die uneingeschränkte Jagd auf den exkommunizierten Regelbrecher Wick freigegeben. Hätte man doch nur 299 tote Handlanger vorher, die Hände von seinem Hund gelassen. Für diesen Aufgabe hat die „Hohe Kammer“ – wer diese auch immer sein mögen – den Marquis Vincent de Gramont alle Rechte eingeräumt. Doch der Kodex räumt auch ein, dass John Wick freigesprochen werden wird, wenn er den Marquis als Kopf seiner Verfolger töten kann.

Regisseur Chad Stahelski hat schon in den ersten drei Teilen seinem Publikum immer weiter steigernde Kampfsequenzen mit schwindelerregender Dynamik geboten. Für das vierte Kapitel hat sich Stahelski aber ein größeres Vehikel besorgt, geht damit umgehend auf maximale Drehzahl, und hält nur kurz zum auftanken. Zum Zeitpunkt dieser Zeilen ist der Body-Count noch nicht wirklich bekannt, aber der Weg von John zu dem Marquis ist sehr weit und sehr lang. Die Welt des John Wick wird dabei etwas konkreter, und doch viel mystischer. Den Machern gelingt es aber hervorragend, diese Welt endgültig aus der Realität zu nehmen, und dennoch in dieser verwurzelt zu lassen.

Es steht außer Frage, dass geneigtes Publikum nicht wegen einer tiefgründigen Geschichte mit soziopolitischen Kommentaren ins Kino geht. Deswegen überhöhen die Macher ihre Erzählung entsprechend, sei es mit wahnsinniger Action – im wahrsten Sinne der Worte – oder mit philosophischen Ausschmückungen über den Wert von Leben, Tod und der eigenen Profession. KAPITEL 4 fächert die Welt des John Wick noch weiter auf, die mittlerweile mehr von Mystizismus getragen wird als von realen Organisationsstrukturen. Und dennoch ist KAPITEL 4 wieder viel fokussierter auf die Hauptperson ausgerichtet, ohne abschweifende, inhaltliche Erweiterungen.

Filmtechnisch und inszenatorisch ist JOHN WICK: KAPITEL 4 ein Meilenstein im Mann-gegen-Mann-Action-Film. Und er wird es lange bleiben, auch wenn absehbar ist, dass Trittbrettfahrer versuchen werden diesen Wahnsinn zu toppen. Was das gesamte Team leistet, ist absurde Furore. Ob Kamera, Schnitt, Continuity (ins Besondere), Choreografen, Stunt-Leute, und natürlich Darsteller. Die greifen alle so perfekt ineinander, das einem schwindelig wird. Chad Stahelski schafft mit diesem Team eine derart atemberaubende Ästhetik in Sachen Brutalität, dass sich niemand wirklich schämen wird, für jeden dahingerafften Körper wahre Freude zu empfinden.

Diese exzellent inszenierte Kampfkunst hat sich natürlich von Teil Eins aus weiterentwickelt, was letztendlich auch den Ruhm der Reihe begründete. Negativ anzumerken ist vielleicht, dass Wick des Öfteren den zweiten, finalen Kopfschuss vergisst. Zynisch? Ja, aber kaum einer oder einem im Publikum wird das während des Films bewusst. Es bleibt ein Geheimnis, so ausladende Settings wie einen Nacht-Club, die Treppen zur Basilika Sacré Cœr, den Kreisverkehr des Arc de Triomphe, oder ein komplettes Abrisshaus derart übersichtlich und nachvollziehbar zu inszenieren, obwohl die Kamera immer in Bewegung ist und gegenläufig dazu die kämpfenden Protagonisten. Aber Zuschauerinnen und Zuschauer wissen immer ganz genau, wo die Darsteller sind, und was sie tun.

John Wick 4 a - Copyright LEONINE STUDIOS

 

Besonders der in einem Take realisierte Kameraflug über alle Zimmer eines verlassenen Hauses und der einhergehenden Kampf-Choreografie ist einer der bemerkenswertesten Kino-Momente aktueller Zeit. Aber Stahelski gibt sich hier, wie in den Teilen zuvor, nicht damit zufrieden, seine Akteure einfach kämpfen zu lassen. Er zeigt sie sehr gerne in sehr langen Einstellungen ohne Schnitt. Man sieht, dass hier die Darsteller ohne Stunt-Double auskommen. Aber Bild und Schnitt vermitteln auch perfekt, dass Wick und seine Gegner nicht einfach wild um sich treten oder schießen. Wenn auch nur im Bruchteil einer Sekunden, sieht man wie beide Seiten jeden nächsten Moment im Kampf genau überdenken.

Bildgestalter Dan Laustsen hat die monochromatisch anmutende Farbpalette von Jonathan Sela aus Teil Eins übernommen, und das Konzept zu einer stimmigen Vision weiterentwickelt. Farben setzen starke und gestalterische Akzente, manchmal mit starken Kontrasten, wie im Rot des Killer-Refugiums Osaka Continental, oder im weichen Gegenlicht von dominierendem Stahlblau des Berliner Rave-Clubs. Jedes Set-Piece hat einen differenzierten Kamerastil, was zusammen mit den Farbkonzepten eine jeweils ganz neue Atmosphäre erschafft. Dazu gelingt es der Regie ausgezeichnet, die körperlichen Schmerzen und Erschöpfung auf der Leinwand im Saal spürbar werden zu lassen.

Es ist eine Tour-de-Force, die fast alle Sinne anspricht. Und die auch leicht ermüden kann. So brillant JOHN WICK: KAPITEL 4 auch technisch und inszenatorisch umgesetzt sein mag, es ist bisweilen einfach zu viel. Wenn jemand sagt, dass er sich an etwas nicht satt sehen kann, dann trifft das nicht auf diesen Film zu, an dem man sich definitiv satt sieht. Zwischen den Kampfsequenzen fährt Regisseur Stahelski in den Dialogszenen wenigstens kurzfristig ganz runter. Es herrscht dramaturgischer Stillstand wenn die Darsteller philosophisch werden, Wertschätzungen austauschen, oder eine dem Publikum unverständliche Welt erklären. Es ist gut zum durchatmen, aber in ihrer meditativen Ruhe von mystischer Anmutung sind diese Szenen dann doch schon wieder viel zu getragen.

Wie THE WARRIORS 1979 sorgt auch JOHN WICK: KAPITEL 4 für ausufernden Tumult im Kinosaal. Allerdings nicht wegen rivalisierender Straßengangs, sondern wegen eines begeisterten Publikums, welches nicht nur sprichwörtlich von diesem Film mitgerissen wird, der dann auch nicht mehr loslässt. Soviel freigesetzte Energie und kollektive Jubelstürme hat es in einem Kinosaal seit Jahren nicht mehr gegeben, nicht einmal bei TOP GUN: MAVERICK. Das mag angesichts des zentralen Motives von JOHN WICK richtig zynisch anmuten. Dennoch ist es unerschütterlicher Verweis, dass mit einem klug durchdachten und konsequenten Filmkonzept, das Kino entgegen aller Schwarzmalerei dem Verfall trotzen wird.

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Darsteller: Keeanu Reeves, Donnie Yen, Ian McShane, Laurence Fishburne, Hiroyuki Sanada, Natalia Tena, Lance Reddick, Bill Skarsgard u.a.
Regie: Chad Stahelski
Drehbuch: Shay Hatten, Michael Finch
nach den Figuren von Derek Kolstad
Kamera: Dan Laustsen
Bildschnitt: Nathan Orloff
Musik: Tyler Bates, Joel J. Richard
Produktionsdesign: Kevin Kavanaugh
USA / 2023
169 Minuten

Bildrechte: LEONINE STUDIOS
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