SPEAK NO EVIL

Speak No Evil - Copyright Plaion PicturesGAESTERNE
– Bundesstart 28.09.2023
– Release 17.03.2022 (Dänemark)

Wo würden Sie die Grenzen ziehen? Wann wäre Ihre Geduld ausgeschöpft, Ihre Toleranz überschritten? Die Brüder Christian und Mads Tafdrup stellen diese Fragen, die Christian, der Ältere, in unbequemen Szenen verpackt. SPEAK NO EVIL verkauft sich als Horrorfilm, der ein geneigtes Publikum zuerst kräftig vor den Kopf stößt. Zugleich wird er die Problemfilm verwöhnten Arthouse-Freunde kräftig in der Magengrube treffen. Das dänische Paar Louise und Bjørn, nebst Tochter Agnes lernen im Italienurlaub die Niederländer Patrick, Karin und deren Sohn Abel kennen. Besonders Patrick, mit seinem unkonventionellen, sehr direkten Wesen, erweckt bei Bjørn und Louise eine zweifelhafte Faszination. Der Urlaub ist schon Wochen vorbei, als von Patrick und Karin eine unerwartete Einladung in die Niederlande eintrifft.

SPEAK NO EVIL ist eine dänische Produktion, was stets aufhorchen lassen sollte. In diesem Sinne hat Christian Tafdrup (PARENTS, A HORRIBLE WOMAN) erneut einen Film gemacht, der sich sehr weit von den Konventionen jenes Genres entfernt, dem er eigentlich vorgibt zugehörig zu sein. Der Film braucht sehr lange, bis erste Hinweise deutlich werden, in welche Richtung sich das Geschehen entwickeln könnte. Der Einladung spontan folgend, treffen zwei unterschiedliche Paare mit vollkommen gegensätzlichen Vorstellungen von Moral, Anstand und Integrität aufeinander.

Bjørn lässt Anzeichen von Lebenskrise erkennen, und kann eine gewisse Affinität für Patricks unverhohlene Offenheit nicht leugnen. Die strukturierte Louise hingegen, tut sich mit der unkonventionellen Art des Paares schwer. Der treusorgenden Mutter geht besonders Patrick und Karins harscher Umgang mit Sohn Abel zu Herzen. Aber Louise und Bjørn können die Lebensweise der Niederländer Anfangs gar nicht verurteilen, sondern stellen erst einmal ihre eigenen Verhaltensnormen in Frage. Der atmosphärische Hauch von skandinavischen Problemfilmen der 1970er.

Der Regisseur erweist sich als Meister der subtilen Dramatik. Auf der einen Seite macht sich eine ansteigende Verwunderung breit, worauf die Handlung eigentlich hinaus will. Währenddessen hat sich auf der anderen Seite eine unangenehme Spannung aufgebaut, die ganz wenig mit dem Nervenkitzel des Gruselkinos zu tun hat. Mit Ignoranz drängt Patrick die Vegetarierin Louise vom Fleisch zu probieren, Karin belehrt unentwegt die ihr eigentlich fremde Gasttochter. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren Gästen, nimmt sehr langsam, aber konsequent groteske Züge an.

Speak No Evil 2 - Copyright Erik Molberg - Plaion Pictures

Aber wo zieht man die Grenzen. Hilflosigkeit und leichte Verzweiflung bestimmen die Atmosphäre, die sich in beklemmender Form auf die Zuschauenden überträgt. Es sind keine unbekannten Situationen, Szenen die selbst erlebt, oder aus erster Hand erzählt wurden. Als Beobachter wird man zur zermürbenden Tatenlosigkeit bestimmt, während Louise und Bjørn merklich um Fassung, Verständnis, oder Geduld ringen, und ihre sozialen Konventionen strapaziert werden. Wo der beworbene Horrorfilm bislang vermisst wurde, offenbart er sich schließlich in seiner natürlichsten Form.

Mit der Kamera bleibt Erik Molberg Hansen ebenfalls Beobachter, er verweigert sich irgendwelcher optischer Spielereien, und versucht sich auch nicht als visueller Erzähler. Die Kamera wird zum Werkzeug, Emotionen von Ohnmacht und Unverständnis nicht nur darzustellen, sondern auf den Beobachter zu übertragen. Die Konfrontation bleibt nicht aus, doch Patrick und Karin kontern mit sehr präzisen und treffenden Beobachtungen über Louise und Bjørn selbst. Christian Tafdrup lässt die zwischenmenschliche Abwärtsspirale immer unbarmherziger kreisen.

Der Filmemacher fordert sein Publikum sehr lange heraus, bis er mit brachialer Schonungslosigkeit den Kern seiner Erzählung freilegt. Bis der Horror in seiner natürlichsten Form, dem Grauen in seiner unbegreiflichsten Art weicht. Was sich für lange Filmminuten wie eine vermeintliche Genreverfehlung ausgenommen hat, wird mit radikaler Konsequenz auf den Kopf gestellt. Christian Tafdrup ist dem Ruf einer Neuausrichtung im Genre mit kompromissloser Entschlossenheit gefolgt, und bringt ein vollkommen überraschtes Publikum zum wimmern und stöhnen.

Einen derart erbarmungslos schockierender letzter Akt muss ein Filmemacher erst einmal wagen. Da sind weder Blutexzesse noch Übernatürliches erforderlich, bei SPEAK NO EVIL aber sehr starke Nerven.

Speak No Evil 1 - Copyright Erik Molberg - Plaion Pictures

 

Darsteller: Morten Burian, Sidsel Siem Koch, Fedjia van Huêt, Karina Smulders, Liva Forsberg, Marius Damslev u.a.
Regie: Christian Tafdrup
Drehbuch: Christian Tafdrup, Mads Tafdrup
Kamera: Erik Molberg Hansen
Bildschnitt: Nicolaj Monberg
Musik: Sune Kølster
Produktionsdesign: Sabine Hviid
Dänemark, Niederlande / 2022
97 Minuten

Bildrechte: Erik Molberg / Plaion Pictures

 

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