Alles, was wir geben mussten

Mark Romaneks sehr seltene Ausflüge auf die große Leinwand sind atemberaubende Gegenentwürfe zu seinen sonstigen Arbeiten als Musikvideo-Regisseur. Diese Ausflüge sind zudem sehr überraschende Abwandlungen von bekannten Kino-Mustern. In ONE HOUR PHOTO machte Romanek nicht nur Clown und Sentimentalist Robin Williams zum unberechenbaren Psychopathen, zudem führte er das Publikum mit einer kaltblütigen Gelassenheit  zu einer Erwartungshaltung, um diese mit einer nicht zu erahnenden Wendung aufzubrechen, die zu den besten des Kinos gehört. Erwartungshaltungen wird auch jeder Zuschauer bei NEVER LET ME GO – ALLES, WAS WIR GEBEN MUSSTEN aufbauen, sofern dieser die Romanvorlage von Kazuo Ishiguro noch nicht gelesen hat. Und Mark Romanek tut sein Bestes, mit diesen Erwartungen zu spielen.

Ist der Film Romanze oder Drama? Eigentlich beides, aber zudem einer der ungewöhnlichsten Science-Fiction-Filme der jüngeren Zeit. Der Zuschauer lernt drei Freunde kennen, die in einer längst vergangenen Zeit auf dem englischen Land leben und aufwachsen. Diese längst vergangene Zeit ist eine, die es nie gegeben hat. Sie beginnt 1952 und endet 1984. Auch wenn sich das Schicksal der Kinder und späteren Erwachsenen schnell offenbart, beschreibt der Film nicht unbedingt eine Dystopie. Indem sich Drehbuch und Romaneks Inszenierung auf die charakterliche Entwicklung der Figuren konzentrieren, wird die Moral der sozialen Utopie nicht hinterfragt. Die Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Gesellschaft überlassen die Filmemacher vollständig dem Zuschauer.

Die Welt, in der die Freunde Kathy, Tommy und Ruth leben, wirkt wie ein einziger Anachronismus. Die Orientierung anhand der Jahreszahlen wirkt nur noch verstörender. Der medizinische Fortschritt, die gesellschaftliche Ordnung, Kleidung, die elektronische Ausstattung oder die unverrückbare Akzeptanz des Schicksals, alles will nicht so richtig zusammenpassen. Und doch ist alles stimmig, weil der Film damit eine Grundstimmung erzeugt, die den Zuschauer stets fordert. In einer Szene gibt es im Internat einen Basar, auf dem sich die Kinder von ihrem kargen Taschengeld etwas kaufen können. Es ist eine bizarre Szenerie, wie freudig erregt die Schüler auf ausrangiertes Spielzeug oder nutzlos gewordene Gebrauchsgegenstände reagieren.

Ständig bewegen sich die Figuren in ländlichen und kleinstädtischen Idyllen, doch die Farben wirken ausgeblichen. Das Idyll trügt nur die Figuren, nicht das Publikum. Es ist eben ihre Welt, mit einem Leben, das sie bedingungslos akzeptieren. Natürlich wirft in einer normalen Filmwelt diese bedingungslose Akzeptanz Fragen auf, doch nur, weil dem geneigten Zuschauer ein Blick von außen gewährt wird, aus einer alternativen Welt, welche den Figuren innerhalb dieses bizarren Anachronismus unbekannt ist.

Was Kathy, Tommy und Ruth allerdings hinterfragen, ist ihre Beziehung zueinander. Es ist das zentrale Thema des Films. Liebe, Vergebung und Hoffnung. Die Freundschaft zerbricht, aber nur dem Anschein nach. Denn durch ihr vorherbestimmtes Schicksal bleibt ihre Liebe bestehen und wirkt die Vergebung selbstverständlich. Und es weckt Hoffnung, Hoffnung auf etwas, das nicht sein kann, weil es in dieser anderen Welt unnatürlich wäre.

Einer der schönsten Einfälle in dieser Geschichte ist die sogenannte Kunstgalerie. Während ihrer Internatszeit müssen die Kinder in regelmäßigen Abständen Bilder malen. Eine französische Sachverständige begutachtet anschließend die Werke und nimmt sie mit, die besten Gemälde werden angeblich in einer Kunstgalerie ausgestellt. Erst später im Leben glaubt Tommy zu erkennen, dass die Gemälde nicht in einer Galerie ausgestellt, sondern als psychologisches Profil ausgewertet werden. Tommy beginnt exzessiv zu malen, aber auch dabei geht es nicht darum, dem Schicksal entgegenzuwirken, sondern das Leben an sich zu gestalten.

Auch wenn NEVER LET ME GO ein sehr ruhiger Film ist, ist er kein langsamer Film. Er ist stimmungsvoll und auf den Punkt fotografiert. Und mit diesen Darstellern hätte Mark Romanek nicht besser drehen können. Verblüffend sind Meikle-Small, Rowe und Purnell als die jungen Pendants von Mulligan, Garfield und Knightley. Doch der Film ist auch zutiefst traurig. In dieser ergreifenden Melancholie ist es ein sehr schöner, sehenswerter Film. Mark Romanek spielt mit den Erwartungen des Zuschauers. Als Einstieg zeigt er, wie der Film enden wird. Er zerschlägt Hoffnungen, um sie nach und nach wieder aufkeimen zu lassen, so wie es den Filmfiguren ergeht. Aber Kathy, Tommy und Ruth kennen ihr Schicksal, ihr Anliegen ist lediglich, ihre Beziehung untereinander in Ordnung zu bringen, sich ihrer Zuneigung bewusst zu werden und mit dem Bewusstsein dieser Beziehung wirklich gelebt zu haben.

Romanek verweigert dem Zuschauer einen klaren Ausblick auf die Ereignisse, das hat er nur seinen Figuren zugestanden. Das macht den Film zutiefst traurig, zu einer anrührenden Romanze, zu einem ergreifenden Drama und zu einem Science-Fiction-Film, wie er eigentlich in seiner Ungewöhnlichkeit direkt aus den Siebzigern stammen könnte.

v.l.: Kazuo Ishiguro, Izzy Meikle-Small, Carey Mulligan, Ella Purnell, Kira Knightley, Mark Romanek, Andrew Garfield

Alles, was wir geben mussten – Never let me go

Darsteller: Carey Mulligan, Andrew Garfield, Keira Knightley, Charlotte Rampling, Sally Hawkins, Izzy Meikle-Small, Charlie Rowe, Ella Purnell u.a.

Regie: Mark Romanek – Drehbuch: Alex Garland, nach dem Roman von Kazuo Ishiguro – Kamera: Adam Kimmel – Bildschnitt: Barney Pilling – Musik: Rachel Portman – Produktionsdesign: Mark Digby

Großbritannien/2010 – zirka 102 Minuten

Bildquelle: Fox Searchlight
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