BIS AN DIE GRENZE

Police - Copyright F comme Film - Cin@ - Thibault GrabherrPOLICE (a.k.a NIGHT SHIFT)
– Bundesstart 30.09.2021

Mit BIS AN DIE GRENZE hat Filmemacherin Anne Fontaine ein ärgerliches Stück Kunstkino geschaffen, das innerhalb seiner eigenen Geschichte nirgendwo Halt findet. Drei französische Cops sollen den Tadschiken Asomidin Tohirov für dessen Abschiebung zum Flughafen bringen. Virginie, Aristide und Erik übernehmen diese Aufgabe als Freiwilligendienst, weil alle Drei ihre Gründe haben, nicht nachhause zu gehen. Anhand von Rückblenden wird erzählt, wie der Tag bis zu dem Auftrag für jeden von ihnen verlaufen ist. Ihre Probleme scheinen alltäglicher Natur. Die Versagensängste als junge Mutter. Die Fürsorge einer Gattin, die noch mehr nervt als der Kampf mit der Abstinenz. Die sozialen und professionellen Unsicherheiten, die mit losem Mundwerk und zynischen Sprüchen kaschiert werden. Virginie, Erik und Aristide verkörpern unterschiedliche Formen menschlicher Vernunft. Es wäre spannend gewesen, hätte Anne Fontaine diese differenzierten Charaktereigenschaften zu einem komplexen Ganzen zusammenführen können.

Dass der Film die Hälfte seiner Laufzeit erst einmal damit verbringt, die Figuren vorzustellen, bevor Asomidin Tohirov in deren Leben tritt, sollte eigentlich etwas bedeuten. Immer wieder wiederholen sich Sequenzen und werden aus der Sicht eines jeweils anderen Charakters noch mal erzählt. Eine misshandelte Frau aus der Oberschicht wird mit ihrem übergriffigen Mann konfrontiert, oder eine Mutter will sich für die Ermordung ihres Kleinkindes rechtfertigen. Der Zuschauer erlebt die jeweilige Situation zwei oder dreimal, immer aus verschiedenen Blickwinkeln. Verstörende Szenen, die den Alltag den drei Bediensteten beschreiben, aber den Betrachter schockieren.

Solche übergreifende Wiederholungen von Sequenzen sind immer ein starkes Werkzeug, mit verschiedenen Perspektiven ein Ereignis in seiner Bedeutung zu vertiefen und gleichsam die Wahrnehmung des Zuschauers zu beeinflussen. Aber die Unterscheidungen wie Virginie, Erik oder Aristide eine Situation wahrnehmen sind marginal, verlaufen sich und werden unbedeutend. Fontaine verschenkt die Möglichkeit, ihren Figuren eine notwendige Vielschichtigkeit zukommen zu lassen, bei der die Zuschauer immer tiefer gehende Facetten entdecken können.

Zweifellos ist die eherne Absicht der Geschichte, Asomidin Tohirovs Abschiebung zur Diskussion zu stellen. Wobei in der filmischen Adaption völlig untergeht, was der Roman sorgsam aufgearbeitet hat. Der Tadschike Tohirov hatte bei den französischen Behörden einen usbekischen Dolmetscher. Sein Asylantrag bestand aus eklatanten Übersetzungsfehlern und machte eine korrekte Einstufung und Zuordnung gar nicht erst möglich. Eines der größten Probleme bei Asylbewerbern europaweit, welches zu Recht unentwegt von Menschenrechtsorganisationen angeprangert wird.

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Im Film wird das Schicksal von Asomidin Tohirov zu einer Gewissensfrage für Virginie, Erik und Aristide. Es verliert sich aber der Fokus, welcher auf dem Schicksal von Tohirov liegen sollte. Doch Anne Fontaine stellt weiterhin die Polizistin und die zwei Polizisten in den Vordergrund. Der Asylbewerber ist zwar Katalysator, ihm wird aber keine Relevanz zuteil. Alle Figuren kreisen nur um sich selbst. Kein Moment im Laufe des erzählten Tages beeinflusst die Bestimmung des anderen in einer wesentlichen Form. Es spielt keine Rolle, ob Tohirov am Ende abgeschoben wird, oder nicht. Es spielt auch keine Rolle, wie die Drei miteinander agieren. Das Resultat würde am Ende für alle gleich aussehen.

Mit Efira, Gadebois und Sy hat der Film starke Schauspielende gefunden. Allerdings werden die Charakterzeichnungen den Möglichkeiten der Darstellenden nicht gerecht. Wenngleich Omar Sy innerhalb der Gruppe den schwächsten Charakter hat, ist seine Präsenz am stärksten ausgeprägt, was seinem allgemeinen Bekanntheitsgrad zu verdanken ist. Doch das drückt leider Payman Maadi weit in den Hintergrund, der als Asomidin den eigentlich beeindruckensten Part hat. Sein Charakter ist weitgehend stumm, die wenigen Worte in seiner Landessprache versteht keiner. Aber genauso versteht auch er kein Wort von dem, was um ihn herum passiert, auch wenn es sein Schicksal betrifft.

So sehr sich Anne Fontaine auch um eine nüchterne und realitätsnahe Inszenierung bemüht, umso mehr vermisst man diesen Hauch mystischer Erlösung für die Menschen im Film und vor der Leinwand. Keine der Figuren findet wirklich Halt bei anderen. Vier Stränge an Geschichten und Hintergründe, die parallel zueinander laufen und sich vielleicht ab und an einmal berühren. Aber sie verbinden sich nie, und ergänzen sich auch nicht. Das ist für eine psychologische Betrachtung oder soziopolitische Abhandlung viel zu dürftig. Und es ist ärgerlich, weil das Potential immer sichtbar ist. Sichtbar in der Geschichte, Handlung, Dramaturgie und den Figuren.

Police 1 - Copyright F comme Film - Cin@ - Thibault Grabherr

 

Darsteller: Virginie Efira, Omar Sy, Grégory Gadebois, Payman Maadi u.a.
Regie: Anne Fontaine
Drehbuch: Claire Barré, Anne Fontaine, Hugo Boris (Roman)
Kamera: Yves Angelo
Bildschnitt: Fabrice Rouaud
Produktionsdesign: Arnaud de Moleron
Frankreich – Belgien – China / 2020
98 Minuten

Bildrechte: F comme Film/ Cin@/ Thibault Grabherr
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