THE WONDER – Das Wunder

Wonder - Copyright NETFLIX– NETFLIX ab 16.11.2022

Filme über den Glauben sind nichts Neues, begründen unter der Bezeichnung ‚faith-based‘ eigentlich auch ein eigenes Genre. Elemente davon hat THE WONDER, doch hier geht der Anspruch in eine viel konkretere Form. Die Erzählung geht nicht über den Glauben, sondern werden von einer unbekannte Stimme angehalten, generell an die Form von Geschichten zu glauben. Dazu sehen wir Bilder, die nur scheinbar wenig mit der Thematik des Films zu tun haben. Es ist ein radikaler und riskanter Anfang (den man selbst erleben muss. Darüber reden würde die Wirkung zerstören). Der chilenische Filmemacher Sebastián Lelio könnte ein typisches Netflix-Opfer sein. Ein erfahrener und vielversprechender Regisseur, der noch so weit unbekannt ist, dass er für wenig Geld zu engagieren ist. Aber Lelio nutzte seine Chance, um mit THE WONDER einen Film zu realisieren, der eigentlich die große Leinwand nicht nur verdient, sondern auch gebraucht hätte.

Die britische Krankenschwester Elizabeth wird in ein kleines Dorf nach Irland zitiert. Als eine von zwei Schwestern, soll sie für längere Zeit die elfjährige Anna O’Donnell beobachten, die seit vier Monaten nichts mehr gegessen hat. Anna behauptet sich vom Himmelsbrot, dem Atem Gottes zu ernähren. Aus wissenschaftlicher Sicht, soll Elizabeth als unabhängige Beobachterin gegenüber dem Ältestenrat des Dorfes das Wunder bestätigen oder einen Betrug erklären.

Was uns nach der unglaublichen Florence Pugh sofort packt, ist die präzise Bildgestaltung von Ari Wegner. Die zu Recht mit unzähligen Nominierungen und vielen Preisen für POWER OF THE DOG bedachte Australierin beweist erneut ihr Gespür für den Einklang von Geschichte und visueller Umsetzung. Die stark angehobenen Kontraste geben der geringen Farbpalette einen unnatürlich wirkenden Glanz. Die epischen Landschaftaufnahmen sind atmosphärisch mitreißend, aber kaum einladend.

Es ist 1862, und obwohl nicht direkt angesprochen, glaubt man das Elend durch die aktuelle Hungersnot regelrecht fühlen zu können. Die Kamera macht mit elegischen Tracking-Shots die Darsteller zum Bestandteil der Landschaft, wobei es scheint als wollten diese aus der Unwirklichkeit dieses Szenarios ausbrechen. Die Innenaufnahmen sind gestaltet, als gäbe es nur natürliches Licht, oder wären mit zeitgemäßen Lichtquellen beleuchtet. Entsprechend schafft Ari Wegner sehr individuell angemessene Stimmungen.

Je mehr Zeit Elizabeth mit Anna verbringt, desto abstrakter

Zuerst glauben wir, Pugh nimmt unsere Sichtweise ein, dann wird es zu einer Auseinandersetzung zwischen uns und ihr. Glauben? Pugh wandelt die pure Wissenschaft in Glaube und bestärkt das Geschehen um die Vernunft siegen zu lassen.

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Wonder 1 - Copyright NETFLIX

 

Je mehr Zeit Elizabeth mit Anna verbringt, desto abstrakter wird auch Elizabeth‘ Sichtweise. Sie kann nicht feststellen, dass Anna in irgend einer Form betrügt. Die Regie macht sich dafür Florence Pughs facettenreiches Talent zu Nutze. Denn Elizabeth, später von Anna nur noch Lib genannt, ist hin und hergerissen zwischen dem rationalen Verständnis ihrer Ausbildung und dem unerschütterlichen Wesen von Anna, deren irdische Nahrungsverweigerung ebenso wahrscheinlich wird.

Durch ihre kraftvolle Präsenz neigt die britische Powerfrau Pugh allerdings auch dazu, ihre Mitspieler leicht zu verdrängen. Was leider bei Tom Burke als Journalist mit investigativem Anspruch, und einer Leidenschaft für Elizabeth, besonders auffällig wird. Sein interessanter Charakter hätte eine intensivere Betrachtung verdient, was die Erzählung allerdings auf Grund ihrer dramaturgischen Konzentration nicht erlaubt. Diese personelle Verdichtung bildet eben auch das Herzstück für die beeindruckend einnehmenden Atmosphäre.

Sebastián Lelio hat eine Dreierbeziehung mit klarem Blick für die wesentlichen Akzente inszeniert. THE WONDER beginnt als Film über Elizabeth, deren Sichtweise wir einnehmen. Es ist eine Auseinandersetzung zwischen unserer Sachlichkeit und Annas fantastisch anmutenden Glauben. Denn in der Mitte liegt eine klare Grenze, die weder für uns, noch für Anna überwindbar scheint. Mit dieser unheilvollen Stimmung weckt der Filme starke Erinnerungen an den schauerlichen Sog von THE VVITCH oder MIDSOMMAR.

Unmerklich dreht Lelio die dramaturgische Struktur, denn Anna wendet sich gegen uns. Dennoch behält sie den Glauben an ihre innere Überzeugung. Jederzeit hätte die Inszenierung den einfachen Weg des wohlgemeinten Horrors gehen können. Aber Lelio versteht es ausgezeichnet mit der Andeutung dieser Möglichkeiten die Atmosphäre zu verdichten, allerdings ohne damit bewusst täuschen zu wollen. Der Regisseur verschont uns mit vorgeschobenen Elementen des Übernatürlichen, was gerade deshalb eine unheimliche Spannung aufkommen lässt.

Elizabeth ist unsere Identifikationsfigur. Wenn Anna mit ihrer suggestiven Überzeugung Elizabeth zum Umdenken zwingt, verlieren wir diese Identifikationsfigur. Wir übernehmen auf uns gestellt die Rolle des rationalen Teilhabers. THE WONDER fordert uns zur Auseinandersetzung mit unserer eigenen Anschauung zwischen Vernunft und Hoffnung. Gerade weil Elizabeth von ihrer wissenschaftlichen Überzeugung abgerückt ist, siegt am Ende der rationale Verstand. Zum Schluss kehrt der Film zu seiner Ausgangssituation zurück. Und wir sind in unserem Glauben gestärkt. Dem Glauben nicht nur an die Geschichte, sondern an das Erzählen von Geschichten. Weil uns Sebastián Lelio mit THE WONDER dazu bringt nicht nur zuzusehen, sondern Teil davon zu werden.

Wonder 2 - Copyright NETFLIX

 

Darsteller: Florence Pugh, Kíla Lord Cassidy, Tom Burke, Toby Jones, Ciarán Hinds, Elaine Cassidy, Caolán Byrne, Niamh Algar u.a.
Regie: Sebastián Lelio
Drehbuch: Emma Donoghue, Sebastián Lelio, Alice Birch
Kamera: Ari Wegner
Bildschnitt: Kristina Hetherington
Musik: Matthew Herbert
Produktionsdesign: Grant Montgomery
USA / 2022
108 Minuten

Bildrechte: NETFLIX
Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Im Fernsehen gesehen abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar