THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD

Most Beautiful Boy - Copyright MISSINGFILMSVÄRLDENS VACKRASTE POJKE
– Bundesstart 29.12.2022

1971 verfilmte Luchino Visconti den Thomas Mann Roman ‚Tod in Venedig‘. Vorausgegangen war eine für europäische Verhältnisse aufwendige Castingtour um die Rolle des verführerischen Knaben Tadzio zu besetzen. Die Figur des Tadzio bildet den Kern der Geschichte, entsprechend wollte Visconti auch den perfekten Darsteller. Hunderte von Kindern hatte der Regisseur mit seinem Besetzungsstab in Finnland, Polen und Russland begutachtet. In Schweden war es in der Reihe schließlich der sechste Anwärter. Die Casting-Direktorin Margareta Krantz beschreibt die Reaktion des Regisseurs, als der fünfzehnjährige Björn Andrésen den Raum betrat, ‚Viscontis ganzer Körper erfüllte sich mit Leben‘. Es bleibt als zweideutige Beschreibung unkommentiert. Diese ersten fünfzehn Minuten von THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD werden durch Original-Filmmaterial getragen, welches die Suche nach der richtigen Besetzung für Tadzio dokumentiert.

Es mag früher gängige Praxis gewesen sein, was diese ersten fünfzehn Minuten zeigen. Aus heutiger Sicht ist es ein Schlag in die Magengrube, einer von vielen, die der Film von Kristina Lindström und Kristian Petri vorhält. Die Filmaufnahmen des kaum bekleideten Björn wirken wie ein pädophiler Albtraum. Fünfzig Jahre später ist Björn Andrésen ein durch Alkohol, Drogen und Depressionen gebrochener Mensch, der ohne Hilfe immer wieder jede Orientierung verliert.

Fünf Jahre haben Lindström und Petri an diesem Film gearbeitet, der sehr wahrscheinlich angeregt wurde, als Kristian Petri für die Doku HOTELLET schon einmal mit Björn Andrésen zusammen arbeitete. Es sind fünf Jahre, die man der Doku auch anmerkt. Die Filmemacher kommen dem Schauspieler und Musiker sehr nahe, was nur mit sehr viel Vertrauen einhergehen kann. Dadurch sind Sequenzen entstanden die immer wieder an die emotionale Schmerzgrenze gehen.

Wenn dem ältere Björn wegen der heruntergekommenen Wohnung die Kündigung droht. Wie er von seiner Freundin übelst beschimpft wird, weil sie seine Motivationslosigkeit nicht mehr erträgt. Als er sich nach Jahrzehnten das erste Mal mit dem Selbstmord seiner Mutter beschäftigt und den Polizei- und Obduktionsbericht ließt. Auch beim jugendlichen Björn reißt es nicht ab, als sich zum Beispiel Visconti bei einer Pressekonferenz in Cannes darüber lustig macht, dass der Junge nun ein Jahr älter wäre, und deswegen gar nicht mehr so hübsch sei.

Die versammelte Weltpresse lacht, und Björn sitzt daneben, ohne zu verstehen worum es geht. Zu diesem Zeitpunkt mag es eine sprachliche Barriere gewesen sein. Aber schon kurze Zeit später scheint er auch mental abgeschaltet zu haben. Was kurz nach TOD IN VENEDIG in Paris passiert war, könne er überhaupt nicht erklären, nur das er in Pariser Kreisen von meist homosexuellen Männern für ein stattliches Taschengeld als Präsentierpüppchen herumgereicht wurde.

Most Beautiful Boy 1 - Copyright MISSINGFILMS

Andrésen mit Luchino Visconti (Mitte), rechts nicht bekannt

 

Im Heute wurden die Sequenzen im vermeintlichen Cinemascope-Look gedreht, dass sich mit den grobkörnigen 16mm-Aufnahmen von früher abwechselt. Mit diesen formalen Trennungen wird auch jedes neue Kapitel eröffnet. Der stete Wechsel in den Zeitebenen macht die Erzählung dahingehend dramatischer, weil kein konstanter Fluss entsteht, in dem die einzelnen Episoden aufeinander aufbauen. Allerdings wird es den Zuschauenden ermöglicht zu versuchen, die diversen Handlungsteile für sich in Relation zu bringen. Was aber nicht unbedingt Gültigkeit haben muss.

Kristina Lindström und Kristian Petri geben mit THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD viele Antworten. Allerdings muss man sich die Fragen selbst herausarbeiten. So herzzerreißend oder schmerzhaft der Film auch sein mag, bleibt es doch ein unvollständiger Blick auf Björn Andrésen. Dessen Abwärtsspirale begann, so entnimmt man dem Film, als er von Luchino Visconti bei der Royal-Premiere von TOD IN VENEDIG Queen Elizabeth und Princess Anne als der schönste Junge der Welt vorgestellt wurde.

Die Filmemacher scheuen sich nicht subjektiv zu bleiben. Positiv ist daran, dass sie auch in keinem Moment vorgeben eine objektive oder neutrale Sicht einnehmen zu wollen. Aus ihrem Blickwinkel war Visconti ein selbstgefälliger Egoist, der Björns Karriere schon zu deren Beginn zerstörte. Bild- und Tonmaterial lassen daran keine Zweifel aufkommen. Dennoch bleibt bei jeder Medaille immer noch eine zweite Seite, die allerdings für die Macher uninteressant bleibt.

Der Mensch steht im Mittelpunkt, und das macht MOST BEAUTIFUL BOY auch so intensiv und berührend. Vielleicht ist es gar nicht wirklich wichtig, woran Björn Andrésen zerbrach. Vielleicht war er schlichtweg nicht der Mensch, der dem gewöhnlichen Druck von Erfolg und Aufmerksamkeit standhalten konnte. Oder waren es jene Personen, die seine Schutzlosigkeit erkannten und die einhergehende Ohnmacht ausbeuteten.

Am wahrscheinlichsten ist, dass bereits in jüngster Kindheit der Weg vorgegeben wurde, der mit jedem Ereignis im Leben dieses Mannes nur noch düsterer wurde. Und das Prädikat des ‚schönsten Jungen der Welt‘ war lediglich eine Episode auf dem finsteren Pfad. Ein spannendes Essay bei dem die Menschlichkeit und Intensität des erlebten die formalen Schwächen überragen.

Most Beautiful Boy 2 - Copyright MISSINGFILMS

Björn Andrésen heute

Mit: Kristina Lindström (Erzählerin), Björn Andrésen, Jessica Vennberg, Luchino Visconti, Dagny Erixon, Margareta Krantz, Maxi Seki, Masatoshi Sakai, Riyoko Ikeda u.a.
Regie & Drehbuch: Kristina Lindström, Kristian Petri
Kamera: Erik Vallsten
Bildschnitt: Dino Jonsäter, Hanna Lejonqvist
Musik: Filip Leyman, Anna Von Hausswolff
Schweden, Frankreich, Deutschland / 2021
93 Minuten

Bildrechte: MISSINGFILMS
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