MOTHERLESS BROOKLYN

Copyright WARNER BROS.MOTHERLESS BROOKLYN
– Bundesstart 12.12.2019

Lionel Essrog ist Privatdetektiv, ein ganz besonderer Privatdetektiv. Essrog leidet unter dem Tourette-Syndrom, was Mitte der 1950 bei den Leuten noch auf Unverständnis für die Krankheit stieß. Immer wieder wird der Detektiv den Menschen erklären, dass man nicht wüsste was es sei. Allerdings wurde Tourette bereits 70 Jahre vor der Handlung des Films als Krankheitsbild festgestellt. Bei einem Film der versucht dieses Syndrom als zentralen Bestandteil der Geschichte zu behandeln, sollte man solche Fakten berücksichtigen und etwas tiefer gehender thematisieren. Doch Tourette ist bei MOTHERLESS BROOKLYN ein Handlungsdetail, welches nichts zur Geschichte beiträgt. Es wird entgegen jeder Erwartung kein tragendes Element im Verlauf. Was davon bleibt ist eine spielerische Beigabe, die hin und wieder für Lacher sorgt, aber keine relevante Rolle einnimmt. Auch wenn Verbände und Betroffene die Darstellung und den Umgang mit dem Tourette-Syndrom im Film als real und glaubwürdig loben.

Vier Jahre nach Edward Nortons vielfach preisgekrönten Kinodebut in PRIMAL FEAR – ZWIELICHT, kam Jonathan Lethems Roman ‚Motherless Brooklyn‘ auf den Markt. Hatte in ZWIELICHT eine Multiple Persönlichkeitsstörung Nortons Karriere explosionsartig gestartet, kann man auch seine Faszination für Lethems Krimi nachvollziehen. 1999 erwarb er die Filmrechte, mit der Absicht das Drehbuch zu schreiben und die Hauptrolle zu übernehmen. Da hatte sich Edward Norton allerdings schon einen zweifelhaften Ruf in der Filmindustrie erworben. Nicht nur ständige Drehbuchänderung während der laufenden Produktionen verlangte der von sich selbst überzeugte Star, sondern mischte sich gerne in die Regie ein und nahm mit Vehemenz Einfluss auf den Schnitt. Die Auseinandersetzungen mit anschließenden Gerichtsverhandlungen wegen AMERICAN HISTORY X sind heute noch filmschulische Paradebeispiele unkollegiales Verhalten. Aus dem MCU hat er sich schon während der Arbeiten an INCREDIBLE HULK selbst hinaus katapultiert.

Fast zwanzig Jahre hatte es also in Anspruch genommen, bis MOTHERLESS BROOKLYN endlich auf die Leinwand kam. Es ist so etwas wie ein Autorenfilm geworden, denn Norton übernahm neben Produktion, Drehbuch und Hauptrolle auch noch den Regiestuhl. Und für gerade einmal verhältnismäßig schlappe 26 Millionen Dollar, offenbart sich ein Film, der nach einem viel höheren Budget aussieht. Obwohl Norton die Zeit der Geschichte nach 1957 verlegte. Eine sehr clevere und künstlerisch ambitionierte Entscheidung. Im Gewand einer Hommage an den früheren Film-Noir kommen Handlungsgerüst und Darsteller wesentlich besser zu Geltung. Im Laufe der Vorproduktion schien Norton der zeitliche Rahmen von ’99 für die Geschichte nicht mehr angemessen. Die Verlagerung in die Zeit von ’57 machte ihn zu einem wesentlich eleganteren Film, mit vielmehr spielerischen Umsetzungsmöglichkeiten.

Copyright WARNER BROS.Eigentlich wollte Lionel Essrog mit seinen drei Kollegen den Mord an ihrem Mentor Frank Minna aufklären. Einzelne, unscheinbare Hinweise bringen Essrog zu der schwarzen Bürgerrechtlerin Laura Rose, die versucht gegen die Gentrifizierung in Brooklyn anzugehen. Die Aktivitäten von Laura Rose führen ihn wiederrum zu dem Bau-Tycoon Moses Randolph. Mit der falschen Identität eines Reporters, erhält der Privatdetektiv nach und nach Einblick in die dunkle Machenschaften der städtischen Politik. Wie ein offenes Geheimnis hat Randolph die Stadtobersten alle in seiner Tasche. Frank Minna scheint bei seinen eigenen Ermittlungen zwischen Fronten gekommen zu sein, welche Essrog allerdings kaum klar bestimmen kann. Eigentlich müsste er nur noch herausfinden, welche Seite vom Tod Frank Minnas profitieren würde. Doch dann kommt der bisher unauffällige Architekt Paul ins Spiel, der mit einem Geheimnis die Karten neu mischt.

Man kann die Absichten und letztendliche Umsetzung hoch halten. MOTHERLESS BROOKLYN gewinnt auch ohne direkte Vergleichsmöglichkeit zur Romanvorlage an Atmosphäre, und eröffnet zur Grundidee mit der Veränderung der Zeit eine zusätzliche, erzählerische Ebene. Aber der Film kann die Stimmungen nicht halten, da passen Musikauswahl, Settings und Farbgebung, doch nichts davon bleibt konstant. Immer wieder wird man aus dem atmosphärischen Fluss gerissen. Wenn sich das Lichtdesign im Büro unvermittelt gegen das eigentlich angestrebte Zeitkolorit wendet, oder Jump-Cuts sowie extrem be- und entschleunigte Bilder die angestrebte, klassische Erzählweise durchbrechen. Dagegen sind andere Sequenzen viel zu lange, zu zeitintensiv inszeniert. Die verschiedenen Formen optischer Gestaltung lenken meist ab, als dass sie die Aufmerksamkeit fokussieren.

Jonathan Lethem kann nicht leugnen, dass sein Roman den Spuren von Robert Townes CHINATOWN folgt, auch wenn MOTHERLESS BROOKLYN im Heute angesiedelt ist. Das mag auch einer von vielen Beweggründen für Edward Norton gewesen sein, das Drehbuch in eine frühere Epoche zu setzen. Auch dieser Film richtet sich in seiner Auflösung nach einem ganz anderen Ende aus, als die 125 Minuten vorher vermuten lassen. Doch das Ende ist bei weitem nicht annähernd so überraschend und komplex wie es CHINATOWN letztendlich zum Klassiker machte. Viel zu viel hat die Handlung in die Waagschale geworfen, hat falsche Fährten gelegt, und schlägt immer wieder Haken in nicht vorhersehbare Richtungen. Einige Handlungselement verlaufen auch in ein unerklärtes Nichts. Nach und nach fügt sich aber alles stimmig zusammen, die Ereignisse werden schlüssig. Doch es fehlt dieser gewisse Funken, der einen überraschten Aha-Effekt auslöst, und sogar Diskussionsbedarf weckt.

Für wahre Nostalgiker und leidenschaftliche Noir-Freunde dürfte MOTHERLESS BROOKLYN lediglich ein überlanger Versuch sein, welcher mit seinen Mitteln gut unterhält. Für aufgeschlossene Kinofreunde wird es sogar ein sehr spannender Exkurs, mit sehr anspruchsvollen Details ans Zeitkolorit. Wobei auch hier die Längen bleiben und die Frage, warum so viel namhafte Darsteller relativ wenig Leinwandzeit bekommen. Edward Norton hingegen ist sehr oft, sehr lange von sich selbst in Szene gesetzt. Aber das kann auch dramaturgische Gründe haben.

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Darsteller: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Bobby Cannavale, Willem Dafoe, Bruce Willis, Ethan Suplee u.a.
Regie & Drehbuch: Edward Norton, nach dem Roman von Jonathan Lethem
Kamera: Dick Pope
Bildschnitt: Joe Klotz
Musik: Daniel Pemberton
Produktionsdesign: Beth Mickle
USA / 2019
142 Minuten

Bildrechte: WARNER BROS.
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