WAS GESCHAH MIT BUS 670?

Identifying Features - MFA+ Film DistributionSIN SEÑAS PARTICULARES
aka IDENTIFYING FEATURES
– Bundestart 10.02.2022

Die minderjährigen Jungs Rigo und Jesús wollen das karge Leben in Mexiko hinter sich lassen. Sie nehmen den Bus an die Grenze, um dort illegal in die Vereinigten Staaten zu immigrieren. Zwei Monate später sitzen ihre beiden Mütter auf einer Polizeistation. Rigo wurde tot aufgefunden und identifiziert. Von Jesús fand man nur die Tasche, wahrscheinlich ist er einer der vielen bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen. Den Polizisten kann man nur hören, nicht sehen. Seine Stimme ist bestimmt und emotionslos. Alltag in dem als Todeszone bekannten Grenzgebiet. In dem Jahr als SIN SEÑAS PARTICULARES gedreht wurde, gab es 524 Tode in diesem unkontrollierbaren Landstrich entlang der Grenze. Zwei Jahre später, als der Film nach einigen Verschiebungen 2021 endlich in die deutschen Kinos kommen sollte, starben dort 663 Menschen. Verhungert, verdurstet, bei Wetterereignissen umgekommen, oder eben durch Gewalt.

Dies ist Fernanda Valadez‘ Langfilm-Debut als Regisseurin. Die Zusammenarbeit mit Astrid Rondero am Buch und beim Schnitt, mit Unterstützung von Susan Korda, deutet stark auf eine gemeinsame Leidenschaft für das Projekt hin. Claudia Becerril Bulos an der Kamera, Dalia Reyes bei der Ausstattung, Clarice Jensen für die Musik. SIN SEÑAS PARTICULARES ist aber kein Frauenfilm in jenem Sinn, dass er auf ein weibliches Publikum ausgerichtet ist. Aber vielleicht ist gerade die weibliche Sicht aus den Hauptgewerken heraus, welche die Erzählstruktur wesentlich stimmiger macht.

Magdalena will ihren Jesús nicht aufgeben. Eine andere Mutter erzählt ihr, wie diese ihren Sohn identifizieren musste, der erst vor zwei Wochen getötet worden war. Vermisst war er vier Jahre, und hätte sie nicht aufgegeben, könnte er noch leben. Für Magdalena Ansporn genug, in der Todeszone nach Antworten zu suchen, um so oder so Gewissheit zu erlangen. Zeitgleich wird der jugendliche Miguel zurück nach Mexiko deportiert, wo sein schicksalshafter Weg mit dem von Magdalena verschmilzt.

Identifying Features 3 - MFA+ Film Distribution

 

Trotz der beabsichtigt unterkühlten Atmosphäre, hätten Becerril Bulos‘ Bilder etwas mehr Farben und stärkere Kontraste vertragen. Die Stimmung in der unbarmherzigen Geschichte findet in den fast bleichen und lange stehenden Einstellungen einen dramatisierenden Verbündeten. Das ist allerdings manchmal zu viel, zu pessimistisch. Der Film ist in seiner radikalen Nüchternheit brutal genug, und schafft zusätzlich mit seiner extrem reduzierten Farbpalette vom ersten Bild an ein beständig ungutes Gefühl.

Die Kamera ist immer auf den Protagonisten konzentriert. Viel wichtiger als Dialoge, sind stets die Personen, welche die jeweilige Szene bestimmen. Gesprächsszenen werden nicht inszeniert, sondern durch die Reaktionen der Darsteller getragen. Dabei nimmt sich Fernanda Valadez sehr viel Zeit. Zeit, die absolut notwendig ist. Denn der Schrecken in der Geschichte entfaltet sich nicht mit drastischen Dialogen oder Darstellungen, sondern mit der nüchternen Rationalität seiner Figuren.

Das Grauen in und um die Todeszone entlang der Grenze, wird umso drastischer, je länger die Filmemacher eine Welt zeigen, die von scheinbarer Ruhe und einem unauffälligen Alltag geprägt scheint. In kurzen, abstrakten Zwischenszenen bricht aber immer wieder durch, dass diese Welt keine heile Welt ist. Und Mercedes Hernández verleiht dem Ganzen ein Gesicht, welches den Schmerz und Verzweiflung sichtbar macht. Es gibt keine Szenen mit Tränen, oder überstilisierten Emotionen. Mercedes Hernández braucht das alles nicht, weil sie auch so mit ihrem zurückhaltenden Spiels das Anliegen der Erzählung aus ihrem Inneren nach draußen trägt.

Das Ende birgt eine schonungslose Auflösung, die verstörend, aber versöhnlich zugleich ist. SIN SEÑAS PARTICULARES kann und will nicht liefern, was man vom populären Kino gewohnt ist. Ganz zu Recht hat der Film in seiner konsequenten Umsetzung ein verwöhntes Festival-Publikum begeistert. Als massentaugliches Drama tut er sich demnach schwer, ist aber durchaus mit seiner Geschichte und dem Erzählstil eine empfehlenswerte Erfahrung.

Identifying Features 2 - MFA+ Film Distribution

 

Darsteller: Mercedes Hernández, Juan Jesús Varela, David Illescas, Laura Elena Ibarra, Ana Laura Rodriguez, Xicoténcatl Ulloa u.a.
Regie: Fernanda Valadez
Drehbuch: Fernanda Valadez, Astrid Rondero
Kamera: Claudia Becerril Bulos
Bildschnitt: Susan Korda, Fernanda Valadez, Astrid Rondero
Musik: Clarice Jensen
Produktionsdesign: Dalia Reyes
Spanien – Mexiko / 2020
95 Minuten

Bildrechte: MFA+ Film Distribution
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