STILL: A Michael J. Fox Movie

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– Apple TV+ ab 12.05.2023

Die bekannteste Arbeit von Davis Guggenheim dürfte die Umwelt-Doku EINE UNBEQUEME WAHRHEIT sein, aufrüttelnder und kontroverser ist aber WAITING FOR SUPERMAN. Weniger in Europa als in den Vereinigten Staaten, weil es um deren Bildungssystem ging. Wer die Arbeiten von Davis Guggenheim verfolgt ahnt, dass dieser Dokumentarfilmer weiß was er tut, der sich nicht auf Themen oder Stilrichtung festlegen lässt. Es ist nur eine Vermutung, aber die Tatsache, dass Guggenheim mit der Schauspielerin Elizabeth Shue verheiratet ist, könnte Einfluss auf sein jüngstes Projekt gehabt haben. Shue hat in den zwei Fortsetzungen von ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT gespielt. Und wie man in Fan- und Branchenkreisen weiß, ist das Ensemble von ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT über die Jahrzehnte hinweg immer noch gut miteinander verbandelt. Eine Filmreihe deren erster Film die internationale Kinokarriere und den Weltstar-Status des Michael J. Fox begründete.

Gleich zu Beginn des Films wird deutlich, wie gut Guggenheim in seinem Fach ist. Wir sehen den stark von Parkinson beeinträchtigten Michael J. Fox, der mit seinem Physio-Trainer einen Weg entlanggeht. Eine Passantin erkennt ihn und grüßt ihn. Michael grüßt zurück, stolpert und fällt hin. Nur mit Hilfe seines Trainers schafft er es, wieder aufzustehen. Dieser Moment ist schmerzhaft und lässt uns sofort darüber nachdenken, ob wir das wirklich sehen wollen oder warum wir uns das überhaupt antun. Schließlich ist diese Person keine kontroverse Figur. Er ist ein Idol, das von Menschen aller Altersgruppen geschätzt wird. Und das ist er seit mehr als zwei Generationen, selbst wenn wir versehentlich bei DOC HOLLYWOOD reinschalten.

Gerade als man diese Szene in Frage stellen will, hilft ihm sein Trainer auf die Beine, und Michael wendet sich der Passantin zu: „Sie haben mich echt umgehauen“. Da verwandelt sich diese schmerzhafte Szene in etwas Wunderbares, und für die nächsten 90 Minuten wird man den Bildschirm nicht mehr aus den Augen lassen. Michael erzählt seine Geschichte selbst (er wird hier vertraut Michael genannt, weil sich alle Zuschauenden nach diesem Film mit ihm noch viel persönlicher verbunden fühlen werden). Man sieht ihn sogar mit seiner Sprachtherapeutin den Off-Text für diesen Film aufnehmen. Sehr oft interviewt ihn Guggenheim auch vor der Kamera.

Michael spricht direkt in die Kamera, mit den Zuschauenden. Sein Körper ist krankheitsbedingt ständig in Bewegung. Es braucht eine Zeit, sich daran zu gewöhnen, merkt aber schnell, dass sich dieser Mann nur äußerlich verändert hat. Auf andere sprechende Köpfe wird verzichtet, mit Ausnahme der Familie Fox-Pollan, wenn sie während einer Unterhaltung vermeintlich spontan gefilmt werden. Michael erzählt von seiner Kindheit und einem gefühlt gleichgültigen Vater, welcher sich allerdings als filmreife, überraschende Wendung entpuppt. Michael spricht über alles, von Kindheit bis zum Leben mit Parkinson. Erzählt wird chronologisch, und das ohne eine Spur von Leerlauf oder Länge.

Weit gefehlt, wer hinter STILL ein nüchterne Abfolge von bedeutenden Karrierepunkten und persönlichen Anekdoten vermutet. Zur Sprache kommen auch seine zeitweise Armut, Alkoholexzesse, berufliche Naivität, und von Parkinson initiierter Selbstbetrug. Offen, ohne Zurückhaltung, atemberaubend intensiv, und immer mit einem für Michael typischen Einzeiler. Kernthema ist Bewegung, ob physisch oder in der Karriere. Michaels Rollen sind alle geprägt von ständiger und haltloser Bewegung. Das übernimmt auch der Film in seinem Erzähltempo. Aber Regisseur Guggenheim hetzt die Biografie nicht einfach durch.

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Guggenheims Inszenierung ist einfach extrem dynamisch, setzt aber immer wieder stimmige Akzente. Wenn zum Beispiel Michael vor der Interview-Kamera strauchelt, weil sein Körper erst einmal wieder etwas anderes macht. So etwas lässt Guggenheim bewusst stehen, was aber niemals mitleidig wirkt, weil das schelmische Wesen von Michael nie abwesend ist. Aber es ist ein stimmiger Gegensatz zu dem uns bekannten Auftreten des Schauspielers, und gibt durchaus auch Zeit zum reflektieren. Und Reflexion ist gut bei einem Film der so viele Eindrücke in so geringer Zeit vermittelt. Das ist sehr wohl dem exzellenten Schnitt von Michael Harte zu verdanken. Aber sicher nicht ihm allein.

Jackie Clary ist die Archiv-Produzentin von STILL, hat aus Michaels Filmografie und öffentlichen Auftritten eine schwindelerregende, nicht zu überblickende Szenenauswahl vorgelegt. Denn die erklärenden Worte des Schauspielers aus dem Off werden in einer hervorragend durchdachten Mischung von nachgestellten Spielszenen und handverlesenen Filmauschnitten bebildert. Und zwar Ausschnitte bei denen nicht nur die Handlung passt, sondern der Originalton auch noch treffend die biografische Erzählung kommentiert.

Das sieht dann zum Beispiel bei den parallel laufenden Dreharbeiten von FAMILIENBANDE und ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT irgendwie so aus: Neu gedreht wird Michael von einem Fahrer abgeholt, und kommt dann in FAMILIENBANDE übermüdet durch die Tür, mit einem passenden Dialog wegen seines gehetzten Eindrucks. In einer anderen Folge der Serie hastet er dann aus der Tür, um außer Atem bei ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT ins Bild zu springen. Und Doc Brown in ZUKUNFT III fragt ihn was los sei, worauf Michael in GEHEIMNIS MEINES ERFOLGES antwortet, er hätte zu wenig geschlafen. Ebenfalls neu gedreht wird Michael schließlich von seinem Fahrer nachhause gebracht, damit er in ZUKUNFT II erledigt ins Bett fällt.

Michael Harte hat diese Sequenzen so präzise in einen fließenden Ablauf montiert, dass sie trotz der unterschiedlichen Quellen wie aus einem bereits bestehenden Film entnommen zu sein scheinen. Wenn Michael von seinem versteckten Markenzeichen des ständigen Laufens in den Filmen und Serien redet, gibt es eine Schnittfolge aus sieben oder acht verschiedenen Filmen in denen der Schauspieler rennt, und der Eindruck entsteht es wäre aus einem Stück. Das ist manchmal richtig komisch, manchmal auch mit dramatischem Charakter. Eine Reihe zeigt die Filmausschnitte, in denen Michael unbemerkt von seinen nichts ahnenden Kollegen die deutlichen Anzeichen von Parkinson zu verschleiern versucht.

Bei dieser Art der Inszenierung entsteht keine Sekunde Pause und hält die Zuschauenden fokussiert, aber nie überfordert an der Person und dem Thema. Und Dank der überwältigenden Arbeit von Jackie Clary findet sich jedes von Michaels Werken zumindest in Filmschnipseln und Tonfragmenten in dieser atemberaubenden Biografie. STILL ist nicht einfach nur ein herausragendes Beispiel für eine anspruchsvolle und mitreißende Dokumentation. Er ist auch ein Exempel an virtuoser Erzählkunst und filmtechnischer Perfektion. Einer kann nur hoffen, dass die Produzenten STILL die Chance einräumen die Regularien zu erfüllen sich für die Academy Awards zu qualifizieren. Der Oscar für Schnitt wäre ihm sicher. Das aber nur von technischer Seite aus betrachtet.

Grundsätzlich ist Davis Guggenheim ein zutiefst humanistischer Film gelungen, der ebenso tief berührt. Aber nicht auf melancholisch traurige Weise, sondern durch seine Energie und seinen Optimismus.  So nah werden wir diesem Menschen nie mehr kommen, der nicht Opfer ist sondern Vorbild. Er macht aus einem beliebten Filmidol einen unbestrittenen Helden: Mister Michael J. Fox…

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Mit Michael J. Fox, Tracy Pollan, Siobhan Murphy und Ryan Orser
Darsteller: Miles Meacham, Kai Kreinman, Sherry Klassen, Darren Zimmer, Donna Lysell u.a.
Regie: Davis Guggenheim
nach den Büchern von Michael J. Fox
Kamera: Julia Liu, C. Kim Miles, Clair Popkin
Bildschnitt: Michael Harte
Musik: John Powell
Archiv: Jackie Clary
USA / 2023
95 Minuten

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