Editorial: NAPOLEON

Napoleon - Copyright SONY PICTURESEditor Uwe– Bundesstart 23.11.2023
– Release 22.11.2023 (UK)

Es sind natürlich verschärfte Bedingungen, wenn ein ohnehin schon bezahlter Streaming-Dienst, im metaphorischen Sinne ausgedrückt, doppelzüngig spricht. Während Mitbewerber die einfache Wahl zwischen Kino und heimischen Bildschirm lassen, wirbt Apple bei NAPOLEON zum Kinostart mit einem Extended-Cut bei der Streaming-Veröffentlichung. Das ist ein Unterschied von 158 Minuten im Kino, und 250 Minuten Streaming. So etwas wäre zum Beispiel bei Jack Snyders JUSTICE LEAGUE eher ohne Bedeutung. Aber NAPOLEON ist ein Film von Ridley Scott, da müsste man meinen es gäbe nichts abzuwägen. Aber nicht jeder Filmliebhaber ist automatisch ein glühender Verehrer des streitbaren Briten. Und für jene Filmliebhaber stellt sich die berechtigte Frage, nach einem Besuch im Kino, wo ein Film dieses visuellen und szenischen Genies hingehört, und verzichtet auf 36 Prozent eines auf 100 Prozent konzeptionell durchdachten Films –

– oder verzichtet man auf die mitreißende Opulenz einer Kinoleinwand und verbindende Atmosphäre eines gut besetzten Auditoriums. Für den hier schreibenden Verfasser hat sich die Frage erübrigt, aber Bedenken aufgeworfen. Was wäre, wenn Scott ein inszenatorisches Debakel wie LAST DUEL von 2017 wiederholt, das Bedürfnis nach der Streaming-Fassung auf Null sinkt, aber erst genau hier NAPOLEON sein wahres Potential entfalten würde. Oder die Situation verhält sich genau verkehrt. Eine endlos scheinende Kette an Variationen. Ein Konzept, das hoffentlich nicht Schule machen wird.

Selbstredend ist die Darstellung der Variationsmöglichkeiten überzogen, dennoch sollten Extentded-Cuts ein Fan-Service bleiben. Im Fall NAPOLEON ist es ein Konstrukt zur Generierung und Bindung von Abonnenten. Zum aktuellen Zeitpunkt hat Ludivine Sagnier bekanntgegeben, dass ihr entfallenes Auftreten in der Langfassung enthalten sein werden. Tatsächlich wirkt die Handlungsstruktur wie ein stark verkürzter Abriss, was Kritiker nach Bedarf als merkliche Unzulänglichkeit im Film werten könnten. Das Problem ist schlicht und ergreifend, es beeinträchtigt das Kinoerlebnis in keinster Weise.

Mit seinen eingespielten Weggefährten Dariusz Wolski bei der Bildgestaltung und Claire Simpson in der Montage (zusammen mit Sam Restivo), zaubert der mittlerweile 86-jährige Scott ein episches Spektakel, welches in seiner Größe und Wucht sogar KINGDOM OF HEAVEN in die Schranken weist. Scotts Alter wird deswegen hier so aufdringlich vorangestellt, weil Regisseure dieser Klasse ab einer gewissen Reife gerne mit kleinen Geschichten eine Art Altersmilde vorgaukeln. Aber Scott ist grundsätzlich immer noch einer der besten Action-Regisseur, mit sehr klarem Verständnis fürs moderne Kino.

Die szenische Harmonie von Einstellungen, Lichtstimmungen und Kadrierungen hat Ridley Scott von Wolski nach alten, bekannten Gemälden umsetzen lassen, die ihn inspiriert haben (zum Beispiel hier). Jede Szene hat mindestens eine Einstellung, die tatsächlich als Gemälde bestehen würden. Gleichsam legt der Regisseur größten Wert auf das Spektakel. Die diversen Schlachten sind gewaltig und voller Gewalt, stilistische Meisterwerke in der Synthese von Kamera und Schnitt, Intensität und Kontinuität. Das Timing ist präzise, und lässt immer einen klaren Überblick im wütenden Geschehen.

Napoleon 2 - Copyright APPLE TV+

Es stellt sich die Frage, ob es die gesellschaftlichen, soziologischen und politischen Erklärungen tatsächlich benötigt, welche die Langfassung noch einbringen wird, um den Weg Bonapartes verständlicher zu machen. Zudem ist David Scarpas Drehbuch, und somit Ridley Scotts Inszenierung ohnehin frei vom Anspruch historischer Genauigkeit. Wozu auch, außer für Historiker? Die dramaturgische Beugung wird die Geschichtsschreibung nicht verändern. Ridley Scott äußerte sich in der Sunday Times wie folgt: „Entschuldige Kumpel, warst du dabei? Nein? Dann halt verdammt noch mal die Klappe.“

In all dem, wäre die gewagteste der Fragen noch nicht gestellt. Wie wäre NAPOLEON filmisch und kulturell einzuordnen, ohne Joaquin Phoenix? Nicht nur die Figur, sondern explizit der Film IST Joaquin Phoenix, eine Naturgewalt an Präsenz, trotz oder gerade wegen seiner minimalistischen Attitüde. Augenaufschlag und merkliche Körperspannung reichen, um seine Siegessicherheit in der zuerst aussichtslosen Schlacht bei Austerlitz zu unterstreichen, oder den Verlauf bei Waterloo verständlich zu machen. Und dann ist da plötzlich der verunsicherte, kindliche Bonaparte in den Händen seiner Josephine.

Auf dem Schlachtfeld oder in den Armen seiner tief verehrten Frau. Napoleon wird schlagartig zu zwei divergierenden Wesen, die aber sein Darsteller in absolute Übereinstimmung bringt. Zweifelsfrei und unumwunden schreibt hier ein Bewunderer. Aber es wird auch kaum Stimmen geben, die Phoenix‘ charismatische Ausstrahlung bestreiten können. Trotz starker Nebendarsteller, ist Ridley Scotts Fokus in der Kinofassung vollkommen auf seine Hauptfigur, sprich Hauptdarsteller ausgerichtet. Und dieser Umstand läßt 150 Minuten leider viel zu schnell vorbeigehen. Aber dieser Umstand klärt noch lange nicht das Dilemma mit zwei kommerziell ausschlachtenden, extrem unterschiedlichen Filmfassungen.

Seltsamerweise bringt Filmemacher Scott in einem BBC-Interview das Problem mit Filmlängen selbst zur Sprache. Nach zwei Stunden würde der „Schmerz am Hintern Faktor“ einsetzen, was er beim Schnitt immer berücksichtigt, und wer durch ständiges auf-die-Uhr-sehen abgelenkt wird, erlebt den Film nicht wirklich. Keine wirklich befriedigende Hilfestellung, wer sich selbst mit der inneren Streitfrage von Kino oder Streaming aussetzt. Aber man kann ja mal darüber reden. Zumindest wird an dieser Stelle eindeutig, welche Fassung vorrangig gesehen werden sollte.

Napoleon 1 - Copyright APPLE TV+

 

Darsteller: Joaquin Phoenix, Vanessa Kirby, Tahar Rahim, Rupert Everett, Mark Bonnar, Paul Rhys u.v.a.
Regie: Ridley Scott
Drehbuch: David Scarpa
Kamera: Dariusz Wolski
Bildschnitt: Sam Restivo, Claire Simpson
Musik: Martin Phipps
Produktionsdesign: Arthur Max
Großbritannien, USA / 2023
158 Minuten

Bildrechte: SONY PICTURES / APPLE TV+
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