LA CHIMERA

La Chimera 1 - Copyright PIFFL MEDIEN– Bundesstart 11.04.2024
– Release 23.11.2023 (It)

Die Filme von Alice Rohrwacher sind keine leichte Kost. Glaubt man zumindest. Auch ihr neuester Streich zeigt, dass sich die Filmemacherin weit von einem kalten Realismus entfernen kann, und doch in dessen Eindringlichkeit verhaftet bleibt. Die Italienerin schafft künstlerische Paradoxen, die genau deswegen angenehm berühren. Bei ihren vorherigen Spielfilmen bescheinigte man ihr einen magischen Realismus. Und das trifft jetzt wohl auf LA CHIMERA stärker zu, als auf Rohrwachers andere Filme. Er könnte ein Märchen sein, und auch Nouvelle Vague, oder die Bezeichnung Neorealismus führen. Nichts davon wäre übertrieben, und nichts davon falsch. LA CHIMERA einzuordnen ist schwer, wäre aber ohnehin zweckfrei. Man muss sich einfach darauf einlassen, auf diese seltsame Geschichte von toskanischen Grabräubern. Die abgehalfterte Bande wäre allerdings noch glückloser ohne ‚englishman‘ Arthur, denn eigentlich ist es seine Geschichte.

Wie es den britischen Archäologen Arthur in die Toskana verschlagen hat, erfährt man genauso wenig, wie über seine eigenartige Gabe. Wenn Arthur unvermittelt, bewusstlos zusammenbricht, liegt unter ihm ein verstecktes, mit wertvollen Artefakten gefülltes Grabmal der Etrusker. Die Beziehung zu der adelig anmutenden Flora bleibt ebenso vage. Sie könnte die Mutter von Arthurs verschwundenen Liebe Beniamina sein, die man nur in Traumsequenzen sieht. Dafür sind da in Floras Villa noch vier Frauen unterschiedlichen Alters, die alle ‚Mutter‘ zu ihr sagen. Eigentlich ist alles sehr ungenau.

Ungenaue Andeutungen sind wesentlicher Bestandteil der Faszination, die einen bei Rohrwachers Film überfällt. Was hat es mit der in Ungnade gefallenen Haushälterin Italia auf sich? Sie könnte die Liebe sein, die Arthur über seinen Verlust von Beniamina hilft. Dazwischen werden von der chaotischen Gaunerbande Grabstätten geplündert, um sich dann von Schwarzmarkthändlern übers Ohr hauenzulassen. Das einzig präzise im Verlauf sind Hélène Louvarts Kamerabilder. Sehr bestimmt und konkret im Ausdruck, fängt Louvarts die widersprüchlich wirkende, traumwandlerische Stimmung ein.

La Chimera 2 - Copyright PIFFL MEDIEN

Ungenauigkeit wird zur mitreißenden Konstanten. Sehr raffiniert verführt das scheinbar Widersinnige oder Willkürliche die Zuschauenden zum fantasieren, und zu einer eigenen Geschichte hinter dem Gesehenen. Hier eröffnen sich die wahren Tiefen, mit wesentlich mehr Substanz als man noch zu Anfang annehmen möchte. Dafür ist Josh O’Connor wie geschaffen, der zwischen Depression und Entkräftung mit unendlich traurigen Augen seinen Prince Charles von THE CROWN wiederholt. Was den Film zum absoluten Vorteil gereicht, denn O’Connor gestaltet seinen Arthur als lebendes Mysterium.

Auch wenn es eine Hauptfigur gibt, ist sie nicht wirklich Mittelpunkt, und ganz nach dem Leitfaden eines magischen Traums, erklärt sie sich nicht. Aber genau das trägt Josh O’Connor. Fragen erübrigen sich sehr schnell, wenn man bereit ist sich fallen zu lassen, um Teil von Alice Rohrwachers seltsamer Welt von Annäherung und Entfremdung zu werden. Es geht um Menschen, mit ihren bekannten, oder überraschenden Macken. Erzählt wird von verlorenen Werten, und über das Land und seine Kultur. Der Verlust von geliebten Menschen ist eine permanente Kontroverse, bleibt aber ungelöst.

In unspezifischen Szenen ist der Film nach Art der Komödien aus den 1920er beschleunigt. In anderen Sequenzen stellt sich das Bild auf den Kopf. Oder es kommt zu Slapstick ähnlichen Einlagen. In diesen Momenten überzieht Rohrwacher ihre surrealen Intentionen. Sie bricht damit aus der eigentlichen Struktur des ohnehin nicht leicht zu greifenden Konzeptes aus. Es sind verschmerzbare Widerstände im Fluss dieses eigenwilligen Traumgebildes, welches einen sehr fesselnden Realismus birgt. Eine Reise die es wert ist, um ein eigene Geschichte hinter dieser Geschichte zu erfahren.

La Chimera 3 - Copyright PIFFL MEDIEN

 

Darsteller: Josh O’Connor, Carol Duarte, Isabella Rossellini, Vincenzo Nemolato, Alba Rohrwacher, Lou Roy-Lecollinet, Yile Yara Vianello u.a.

Regie: Alice Rohrwacher
Drehbuch: Alice Rohrwacher mit Carmela Covino & Marco Pettenello
Kamera: Hélène Louvart
Bildschnitt: Nelly Quettier
Produktionsdesign: Emita Frigato
Italien, Schweiz, Frankreich / 2023
133 Minuten

Bildrechte: PIFFL MEDIEN
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