I AM MOTHER – von Netflix

I am Mother c, Copyright CONCORDE FILMVERLEIHI AM MOTHER – Bundesstart 22.08.2019

Fluch und gleichzeitig Segen, das nennt man unter Filmfreunden Netflix. Der Segen ist die sofortige Verfügbarkeit vom Fernsehsessel aus. Dass es passieren kann, sich doch einmal ins Kino bewegen zu müssen, um einen Film zeitnah erleben zu dürfen, könnte man als Fluch ansehen. Und doch ist es ein enormer Vorteil, dass einem in manchen Ländern doch die Möglichkeit gegeben wird, bestimmte Filme im Vorfeld doch im Kino präsentiert zu bekommen. Und in Deutschland ist es bei I AM MOTHER der Fall. Vielleicht nicht bewusst nach diesen Kriterien erkoren, rechtfertigt ausgerechnet das reduzierte Umfeld der Filmhandlung, ein großes Bild, den maximal besten Raumklang und die Weite eines Auditoriums. Eigentlich ist I AM MOTHER etwas, das man Kammerspiel nennen könnte, weil sich eben die Reduktion auf alle Ebenen auswirkt. Das Set-Design, die Anzahl der Darsteller, selbst die Musikuntermalung. Aber alles zusammen ist stimmig und effizient.


Science-Fiction ist ein Genre welches sich kaum, oder sehr schwer definieren lässt. Ob KRIEG DER STERNE, das man als Märchen betiteln könnte, oder INTERSTELLAR als intellektueller Mindf**k (englisch macht es eine Spur weniger obszön). Die großen Schauwerte verbinden wesentlich einfacher die Wissenschaft mit der Fiktion.  Wo schließlich Science-Fiction bei Zuschauern aus allen Interessengruppen übergreifend funktioniert, ist bei psychologischen Gedankenspielen. Viel besser noch, wenn die Fiktion weit in den Hintergrund gerückt wird. Wie bei Spike Jonze‘ leider kaum beachteten HER, wo Mensch und künstliche Intelligenz unter Missachtung jeder Norm interagieren. Eine Charakterisierung dieser scheinbar nicht allzu fernen Zukunft wird weitgehend außer Acht gelassen, weil irrelvant. Der ebenso verschmähte, aber ebenso geniale EX MACHINA verlegt die Zukunft in ein greifbares Ambiente von heute. Dafür sprengt er die physischen Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Was wäre wenn, wird zum psychologischen Verwirrspiel, weil niemand es wirklich zu lösen vermag, aber die Faszination darüber hält einen fest.
 
All diese Gedankenspiele führen unweigerlich zu der Frage, wie man die Begrifflichkeit von künstlicher Intelligenz tatsächlich definieren muss, und welcher Spielraum darin gegeben sein kann. In I AM MOTHER zieht ein Roboter mit künstlicher Intelligenz ein menschliches Kind groß. Ziel ist es, die Erde neu zu besiedeln. Unmerklich rückt die Ursache dieser Grundlage in den Hintergrund. Vorne an steht die Frage, wie ein artifizieller Geist ein menschliches Wesen zu einem solchen erziehen kann. Im Umkehrschluss bleibt die Ungewissheit, ob dieser Mensch wirklich als vollwertig in allen Stärken, aber erst recht auch Schwächen, heranwachsen kann. Und müsste dann nicht der Mensch die überlegenere Spezies werden, indem er sich allerdings weit über die Grenzen hinaus entwickelt, wo jenseits davon eine künstliche Intelligenz überhaupt keinen Einfluss mehr haben kann. Was den Zuschauer als Frage bewegt, hat ‚Mutter‘ im Film längst bedacht und vorbereitet. Am Ende wird mit logischer Rationalität, ein intuitiver Lern- und Denkprozess angestoßen.

I am Mother a, Copyright CONCORDE FILMVERLEIHAber ist ‚Mutter‘ deswegen die Gute? Wenn sie Nachts in den Auflademodus schaltet und angeblich nicht mehr ansprechbar ist, lässt sich das damit vereinbaren, dass man für ‚Tochter‘ eigentlich jederzeit verfügbar sein sollte? Die Macher lassen den Zuschauer im ständigen Zweifel. Sie spielen geschickt damit, einer künstlichen Intelligenz grundsätzlich zu misstrauen. Und sie schaffen genügend Situationen, alle Variationen von Wendungen möglich zu machen. Doch misstraut ihr ‚Tochter‘ auch? Letztendlich ist der Roboter der einzige soziale Kontakt den sie je kennen gelernt hat, mit dem sie aufwuchs. Was für ‚Tochter‘ selbstverständlich ist, die dadurch eine ganz andere Beziehung zu der Situation hat, wirft vielerlei Fragen auf.

Die ausgedehnten Räumlichkeiten, schlichte, fast kalte Gänge und Zimmer, lassen die zwei Protagonisten klein und unbedeutend wirken. Sie verlieren sich. Auf paradoxe Weise entfacht es ein bedrückendes Gefühl. Die Kulissen bilden einen starken Kontrast, zu der innigen, aber ungewöhnlichen Bindung zwischen den Hauptcharakteren. Der Aspekt des Genres Science-Fiction wird nicht verdrängt, oder heruntergespielt. Es ist der Katalysator für die Geschichte, wo die Zukunft nur durch Selbstbestimmung und -findung Bestand haben wird. Science-Fiction, die ohne die großen Schauwerte funktioniert, die intellektuell anspricht, und die herausfordert. Wo die Wissenschaft verstören kann und die Fiktion mit Gedankenspielen lockt. Da ist es ein Segen, dass sich Netflix zumindest in Deutschland für eine Kinoauswertung entschieden hat. Ganz großes und großartiges Kino, das sein Publikum über den Abspann hinaus im Sessel behält, wo bereits die ersten Diskussionen entbrannt sind. Die fabelhaften Debütanten Grant Sputore im Regiesessel und Michael Lloyd Green mit Drehbuch, liefern tatsächlich Antworten. Letztendlich ist die Auflösung rational wie menschlich. Das beste beider Welten.

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Darsteller: Tahlia Sturzaker, Clara Rugaard, Hilary Swank
Mutter: Luke Hawker – Stimme: Rose Byrne
Regie: Grant Sputore
Drehbuch: Michael Lloyd Green
Kamera: Steven Annis
Bildschnitt: Sean Lahiff
Musik: Dan Luscombe, Antony Partos
Produktionsdesign: Hugh Bateup
Australien / 2019
117 Minuten

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