fast verpasst: AIR – Der große Wurf

AIR - Copyright AMAZON STUDIOSAIR – Courting a Legend
– Bundesstart 06.04.2023

Es ist 1984, und für alle im Publikum die vor 1975 geboren sind ist alleine schon der dreiminütige Titelvorspann jeden Cent Eintritt wert. Eine atemberaubende Palette an Nachrichten-fragmenten und Filmausschnitten bebildern das Jahr. Und das selbst Sylvester Stallone mit Dolly Parton für zwei Sekunden in ihrem Flop RHINESTONE COWBOY zu sehen sind, ist nicht nur ein Zeichen der unerschütterlichen Hingabe an diesen Vorspann und jene Zeit. Dieser Vorspann ist gleichsam stellvertretend für die Leidenschaft der Macher in diesen Film, allen voran natürlich Ben Affleck. Es ist 1984, und den Weltmarkt für Basketballschuhe beherrscht Converse mit 54%, abgeschlagen liegt Adidas bei 29%, und Mitbewerber Nike kommt gerade einmal auf 17%. Nikes Talentsucher Sonny Vaccaro soll drei Basketball-Spieler ausfindig machen, die aus ihrer College-Mannschaft in die NBA übernommen werden, und Werbeverträge mit Nike unterzeichnen.

Nicht nur Spielzeuge bekommen ihre eigenen Filminterpretation. Der Trend geht mittlerweile zu den Ursprüngen von ikonischen Produkten. Eine Woche vor AIR startete bei Apple TETRIS, der die eigentlich sehr spannende Geschichte des Computerspiels fast leblos und inkohärent umsetzt. Ben Affleck macht das anders herum, und erzählt eine unspektakuläre Geschichte sehr locker, witzig und inspirierend. Unspektakulär deshalb, weil der Anfang der Geschichte eigentlich betriebswirtschaftlicher Alltag in Weltunternehmen ist. Wie üblich im Geschäft, sind die von Nike anvisierten drei Spieler rein rechnerische Kalkulationen, um entsprechend Schuhe zu bewerben.

Aber Sonny Vaccaro ist nach ausführlichen Beobachtungen davon überzeugt, sich nur auf einen einzigen, noch dazu ganz anderen Spieler zu konzentrieren. Doch dieser Michael Jordan steht schon kurz vor dem Abschluss mit Adidas. Und wer noch immer nicht weiß, wie dies ausgeht, soll es an dieser Stelle auch nicht erfahren. Es ist jedenfalls eine jener Geschichten, die ihren Erfolg im Geiste der uramerikanischen Eigenart begründen, einengende Regeln auszuhebeln oder zu brechen. Ein bravouröses Schelmenstück, mit den dramaturgischen Höhen und Tiefen des gewohnten Unterhaltungskinos. Nur mit mehr Hingabe in der Inszenierung und exzessiveren Darstellern.

Phil Knight sagt im Film selbst, „du wirst dafür in Erinnerung bleiben, welche Regeln du gebrochen hast“. Als Begründer und Vorsitzender von Nike hat sich Affleck selbst besetzt, wieder mit extravaganter, aber dem Vorbild ebenbürtiger Frisur, nur nicht so überdreht unausstehlich wie zuletzt in THE LAST DUEL. Den Film hat Affleck zusammen mit Matt Damon auf die Figur Sonny Vaccaro ausgerichtet. Wegen gewerkschaftlicher Richtlinien wird aber Alex Convery alleine als Drehbuchautor aufgeführt, der auch Idee hatte und die erste Fassung schrieb. Als Vaccaro wiederholt Damon eigentlich nur seinen All-American-Guy, besonders tief ist die Rolle nicht ausgelegt.

AIR ist ein Darsteller-Film, bei dem die äußere Wahrnehmung und das Ensemble-Spiel der Figuren wichtiger sind, als eine intensivere Betrachtung ihrer charakterlichen Tiefen. Das ist in diesem Film durchaus gerechtfertigt und passt zu dem sehr lockeren, manchmal sogar umwerfend komischen Erzählstil. Wobei Affleck keineswegs eine leichtfertige Komödie inszeniert hat. Schließlich muss er in erster Linie den lebenden Vorbildern gerecht werden, wo es soweit aus der Sicht des außenstehendes Beobachters keinerlei Anstöße gibt. Aber der Regisseur kann auch sehr wohl, sehr präzise die Stimmung den Gegebenheiten angemessen anpassen.

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Es geht um einen der besten Deals in der Sportgeschichte, und der bis heute erfolgreichsten, aber auch beliebtesten Sportschuh-Serie der Welt. In solchen Fällen, wenn Deloris Jordan über die Belange für ihren Sohn Michael redet, kann AIR regelrecht philosophisch werden. Aber keine Kalenderblattsprüche, sondern wirklich substanzielle Gedanken, wo der atmosphärische Ton ganz leise wird, und die Kamera die Gesichter der jeweiligen Protagonisten erforscht. So komisch und irrwitzig die Figuren immer wieder miteinander umgehen, erlaubt sich der Film bei den fundamentalen Details von Geschäft, Motivation und Verantwortung keine Versuche von ablenkendem Humor.

Ähnlich wie bei ARGO versteht es Ben Affleck auch hier sehr gut die Historie in ihren verzwickten Details gut zu vermitteln, ohne die absonderlichen Aspekte und humorvollen Möglichkeiten außer Acht zu lassen. Sein Gespür für Tempo und einen ansprechenden Erzähl-Rhythmus wird in AIR wieder bestätigt. Es ist ein Film der mitzieht, kaum loslässt, und auch nicht enttäuscht. Mit der Ausnahme von Michael Jordan selbst. Die Idee, ihn im Film in Erscheinung treten zu lassen ist schlichtweg falsch. Gespielt von Damien Delano Young, ist Michael als Person nur von hinten zu sehen, oder sein Kopf ist am oberen Bildrand abgeschnitten, im Dialog hat er nur sehr wenige Worte.

AIR ist anspruchsvolle Unterhaltung, die noch anspruchsvoller sein könnte, hätte man ganz auf die Figur Michael Jordan verzichtet. Sein Auftritt trägt nichts zu der Erzählung bei, außer Erwartungen aufzubauen, die sich in ‚Luft‘ auflösen. Besser beraten war da der Regisseur mit Music-Supervisor Andrea von Foerster, die sich an Afflecks Liste von Musikwünschen abarbeiten musste. Eine erstklassige Auswahl von sehr eingängigen Stücken, die treffsicher die Stimmung zeitgenössisch unterstützen. Von The Clash, über Violent Femmes, hin zu Run-D.M.C, und vielen Bekannten mehr gibt es ordentlich was zu hören. Es ist 1984, und das war auch der Soundtrack zu diesem Jahr.

Aber auch Filmmusik lässt AIR nicht aus, wie Harold Faltermeyers Axel F-Theme aus BEVERLY HILLS COP, oder Tangerine Dreams FIRESTARTER-Soundtrack. Normalerweise ist es ein deutliches Zeichen von Einfallslosigkeit, wenn Song-Lyrics exakt die Situation der jeweiligen Szene beschreiben. Aber hier ist so offensiv eingesetzt, dass es erheblichen Anteil an der einnehmend guten Atmosphäre des Films hat. Das beste Stück hat sich Ben Affleck für sich selbst als Nike-Chef Phil Knight reserviert, wenn ‚Sirius‘ von Alan Parsons Project erklingt- die Einlaufhymne der Chicago Bulls, mit denen Michael Jordan 1991 die erste von sechs Meisterschaften gewann.

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Darsteller: Matt Damon, Jason Bateman, Ben Affleck, Viola Davis, Chris Messina, Julius Tennon, Damien Delano Young, Chris Tucker u.a.
Regie: Ben Affleck
Drehbuch: Alex Convery
Kamera: Robert Richardson
Bildschnitt: William Goldberg
Produktionsdesign: Francois Audouy
USA / 2023
112 Minuten

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