LIVING – Einmal wirklich leben

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– Bundesstart 18.05.2023

Der südafrikanische Regisseur Oliver Hermanus hat sich bisher lediglich in seinem Heimatland einen Namen gemacht. Womit der Regiesessel für LIVING somit als glückliche Fügung verstanden werden darf, denn Hermanus weiß Atmosphäre zu erzeugen, und zwar auf den Punkt. Das beginnt beim Titelvorspann und seinen Originalaufnahmen des London der Fünfzigerjahre. Große, goldene Namensnennungen im Stile des Kinos der Nachkriegszeit, und zeitgenössisches Bildformat leicht über dem 1,33:1 Standard. Männer in dunklen Anzügen und Bowler stehen am Bahnsteig, um von den Vorstädten nach London zu kommen. Die Kollegen sitzen zusammen, der Abteilungsleiter grüßt im vorbeigehen, nimmt aber in einem anderen Waggon Platz. Ziel ist die Stadtverwaltung von London, wo sich in engen Büros auf jedem der dicht zusammengestellten Schreibtischen Aktenberge zur Genehmigung häufen. Es ist das wahr gewordene Schreckgespenst von kalter, emotionsloser Bürokratie. Und Mr. Williams sitzt am Kopfende dieses Raumes, dass Abbild des stoischen Beamten.

LIVING ist keine sonderlich originelle Geschichte, und man kann sich darüber streiten ob es überhaupt ein origineller Film ist. Sicher ist, dass diese Geschichte durch Bill Nighy lebt, dass dieser Film nur mit Bill Nighy so ansprechend sein kann. Denn LIVING wird zu etwas besonderem, weil Oliver Hermanus nie versucht seinen Film mit künstlich aufgebauschter Dramaturgie zu etwas Besonderem zu machen. Die ersten zwanzig Minuten gewähren einen Einblick in den bürokratischen Alltag in der Verwaltung, und dem eintönigen, der Arbeit geopferten Leben von Mr. Williams. Dessen Kinder lieber Müdigkeit vorschieben, anstatt sich mit ihm zu unterhalten.

LIVING ist dabei sehr komisch, aber unterschwellig und unaufdringlich. Wie die Damen mit der Petition für einen Kinderspielplatz, die im ewigen bürokratischen Kreislauf von einer Abteilung zur nächsten verwiesen werden, weil die eine Abteilung erst etwas machen kann, wenn die vorherige etwas genehmigt hat. Bis es wieder im Büro von Mr. Williams landet, wo es abschließend im Stapel nie bearbeiteter Akten landet: „Es kann nicht schaden“. LIVING ist aber gleichzeitig sehr nachdenklich, bisweilen traurig. Wenn Mr. Williams mit fataler Prognose vom Doktor kommt, aber mit niemanden reden kann, weil er niemanden hat zum reden.

LIVING ist dabei aber niemals melodramatisch, auch nicht schwermütig. Kern der Geschichte ist die Entdeckung des Lebens. Denn nichts anderes widerfährt Mr. Williams als von Schriftsteller Sutherland aus seinen über Jahrzehnte festgefahrenen Routinen herausgerissen wird. Nach einer Nacht voller ausschweifender Genüsse hat Williams den Bowler gegen einen Fedora getauscht, und bleibt der Arbeit unentschuldigt fern. Doch anstatt als symbolischer Befreiungsschlag in eine überladene Ausgelassenheit zu verfallen, bleibt die Inszenierung stets geerdet und überreizt nichts. Es ist ein durch und durch ehrlicher Film.

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LIVING verliert im Verlauf der veränderten Lebenssituation auch nie ganz den eingefahrenen Beamten, der Mr. Williams irgendwie noch ist. Was die Geschichte für eine wundervolle, wenngleich nicht wirklich überraschende Auflösung von seinem Schicksal zu gebrauchen versteht. Mr. Rodney Williams nutzt seine Stellung und seinen Einfluss um zum Ende hin wenigstens einmal etwas vernünftiges zu tun. Und wer könnte das besser verkörpern als Bill Nighy. Egal wie oft man das bei anderen Darstellern in anderen Filmen zu glauben meint, hier ist es offensichtlicher Fakt, dass LIVING nur mit dem immerfort melancholischen Charme von Nighy in dieser ansprechenden Form möglich ist.

LIVING geisterte schon Jahre durch den Kopf von Schriftsteller/Komponist/Kolumnist/Drehbuchautor Kazuo Ishiguro. Real wurde das Projekt erst als sich Ishiguro und Nighy einmal ein Taxi teilten, und der Autor den Schauspieler darauf ansprach. Egal in welchen Rollen, verkörpert Billy Nighy alleine schon physisch eine gewisse Tragik, was dem Charakter Williams extrem gut tut. Die Figur braucht keine Worte, sondern erklärt sich mit Nighy in seiner ganzen Wesensart und all seinem Tun. Aimee Lou Wood verkörpert als erfolglose aber lebensbejahende Margaret einen aufregenden Gegenpart, dem sich Rodney Williams ebenso wenig entziehen kann, wie die Zuschauenden.

LIVING ist aber nicht einfach nur ein Film über das Leben. Nicht nur Rodney ist eine tragische Figur. Es geht auch um Verlust, verpasste Chancen, und falsche Vorurteile, was die anderen Charaktere erst zu spät bemerken. Dennoch verweigert Oliver Hermanus seinem Film die Möglichkeit auf das große Melodram oder falsche Emotionen. Es ist ganz sicher keine sonderlich überraschende Geschichte, aber ein sehr schöner Film bei dem sich leichter Humor und sanfte Tragik gegenseitig stützen und ergänzen. Die Welt aus der Rodney Williams entfliehen konnte wird sich nicht verändern, dafür wird sein Vermächtnis viele Kinder einfach glücklich machen. Am Ende dreht sich hier die alte Sinnfrage nach der Notwendigkeit eines Remake in die entgegengesetzte Richtung. LIVING macht richtig Lust auf Akira Kurosawas Original EINMAL RICHTIG LEBEN von 1952. Der ja eigentlich auch nur eine Adaption von Leo Tolstois ‚Tod des Iwan Iljitsch‘ ist.

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Darsteller: Bill Nighy, Aimee Lou Wood, Alex Sharp, Tom Burke, Adrian Rawlins, Hubert Burton, Oliver Chris, Michael Cochrane u.a.
Regie: Oliver Hermanus
Drehbuch: Kazuo Ishiguro
nach Akira Kurosawas Film IKIRU
Kamera: Jamie Ramsay
Bildschnitt: Chris Wyatt
Musik: Emilie Levienaise-Farrouch
Produktionsdesign: Helen Scott
Schweden, Großbritannien, Japan / 2022
102 Minuten

Bildrechte: SONY PICTURES CLASSICS
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